Zweites Kapitel.
Die griechische Plastik.
Geschichtliche Entwicklung.
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behandelt, welehe verniuthlieh die Anregung zur plastischen Ausprägung
gab. Bekanntlich erzählt die Sage, Laokoon habe gerade im Begriff
gestanden, dem Poseidon ein Opfer (larzubringen, als von der Insel
Tenedos zwei ungeheure Schlangen, von Apollo gesandt, durch's Meer
heraneilten und den Priester sammt seinen beiden ihm als Dpferknaben
dienenden Söhnen tödteten. Diese Katastrophe entschied den Untergang
Troja's. Denn da Laokoon sich der Aufnahme des von den Griechen
zurüekgclassenen Pferdes widersetzt und die Trojaner vor Unheil gewarnt
hatte, so hielt man sein furchtbares Geschick für ein Gottesurtheil und
riss eine Bresche in die Stadtmauer, um das Ross hineinzuführen. Wäre
Laokoon wegen seines Patriotismus von den Göttern bestraft werden,
so würde der Stoff ein unsittlicher zu nennen sein; anders verhalt es sich
dagegen, da er wegen eines früher begangenen Frcvels in einem Momente
gestraft wird, wo sein Untergang zugleich den Fall seiner Vaterstadt nach
sich zieht; denn nun wird die Katastrophe eine in eminenterm Sinne
tragische.
Der Bildhauer hat den Vorgang auf der Spitze der Entscheidung
erfasst und aus drei aufeinandertblgenden Momenten der Handlung mit
stauncnswcrther Kunst eine einheitliche, innig zusammenliäingende Gruppe
gebildet. Die jahc Gewalt des hercinbreclientlcii llnhcils ist mit einer
Lebendigkeit geschildert, die an die äiusscrsten Grenzen des Plastischen
geht, ja in's Malerische beträchtlich hinüber-greift. An den Stufen des
Altars, die der Gruppe als Basis dienen, hat das Verderben den Vater
und die beiden Söhne mit einem Schlage ereilt. Die herrliche Gestalt des
Vaters ist auf dem Altare zusammengebrochen, denn eben hat ihm die
eine Schlange einen wüthentlen Biss in die Seite versetzt, der tödtlich sein
muss, so krampfhaft zuckt Laokoon zusammen und stösst mit zurück-
geworfenem Kopfe aus halbgeötliietem Munde ein sehmerzvolles Stöhnen
aus. Sein Leib zieht sich convulsivisch zusammen, und die vorgedrängte
Brust schwillt vom Ucbermasse des Jannners; die rechte Hand (unriclng
restaurirt, aber auf unsrer Abbildung richtig ergänzt) greift im über-
wältigenden 'l'odessch1nerz nach dem Hinterkopfe, xiväihrentl die Linke nur
noch mechanisch ohne Erfolg die Schlange zu entfernen sucht. In den
physischen Schmerz, der den Gesichtsausdruck beherrscht, mag sich auch
Seelenweh mischen, denn einen Moment vorher ist der jüngere Sohn
bereits dem Bisse der andern Schlange erlegen, und wir sehen den zarten
jugendlichen Körper sich winden und in 'l'odeszuckungen hinsinkcn. Der
ältere Sohn wird eben erst am rechten Arm und am linken Fusse von der
Schlange umringelt, die er mit der frcigebliebenen Hand zu beseitigen
sucht. Vergebens, denn der Todesschrei des Vaters lenkt seine Aufmerk-