Zweites Kapitel.
Die griech
ische Plastik.
Geschichtliche Entwicklung.
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wie Sehnaasc sagt," beweist dies bedeutende Werk, wie die Griechen auch
solche Gegenstände eines niederen sinnlichen Lebens zu adeln vermochten.
Zu grosscr Bedeutung erhob sich denn auch in dieser Zeit die
Portraitbildnerei. Wenn die griechische Plastik in ihrer höchsten
Entfalhmg, als sie die Ideen der gesammten Nation gestaltete, die charak-
teristischen Züge individuellen Lebens ausgeschlossen hatte, so nahm sie
in einer Epoche, welche dem subjektiven Empfinden ein entschiedenes
Uebergewicht einräumte, auch die Bildnissdarstellung mehr und mehr in
ihren Kreis auf. Aber so viel blieb ihr immer von jenem hellenischen
Schönheitsgefühl eigen, dass sie auch diese Gestalten mit der Kraft idealer
Anschauung auffasste und ihre Formen mit dem Hauch einer edlen Anmuth
erfüllte. Das Wesentliche, geistig Bedeutsame wird der Mittelpunkt, von
wo aus die ganze Erscheinung ihr eigenthümliehes Leben empfangt. Alles
Zufällige, Kleinliche wird unterdrückt, die Gewandung nur zindeutuilgs-
weise und idealisirt gegeben und selbst das Unschöne durch geistreiche
und lehensvolle Auffassung mit dem Stempel des Bedeutenden geadelt.
In den besten, noch acht griechischen Nachbildungen, die auf uns gekom-
men sind, klingt vernclnnlicli diese grosse, vornehme Behandlung an und
unterscheidet solche Arbeiten bestimmt von den schärfer realistisch aufge-
fassten römischen Bildnissen. Zu den vorzüglichsten solcher Statuen ge-
hören der Sophokles des L ateran s, das Muster eines vollendet durch-
gebildeten, schönen und geistvollen Hellenen ; der Aesehines des Museums
zu Neapel (früher Aristides genannt), jenem nicht an Schönheit, wohl
aber an Kraft und 'I'ie-fe der Charakteristik gleich kommend; ferner die
beiden sitzenden Statuen des Menander und Poseidipp im Vatican, treff-
lich in der leichten und freien Haltung, wie sie bei modernen sitzenden
Gestalten nicht hauüg gefunden wird. Ebenso der Aristoteles des Palastes
Spada zu Rein, der sprechend lebendige Anakreon der Villa Borghese
daselbst, endlich im Vatican noch die schlichte Heldengestalt des Phokion
und deixseharf ausgeprägte, fast herbe Demosthenes.
So sehen wir die Kunst in dieser Epoche die idealen Gestalten in's
Anmuthigc, Milde hinüberziehen, daneben aber mit einer besonders liebe-
volleirIIingabe, sieh dem ganzen Kreise der Wirklichkeit zuwenden und
in Portraits, Genrebildern, Thierdarstellungen einer lcbensvollen WVahrheit
nachstreben. Alexander der Grosse bezeichnet, wie im griechischen Leben
so in der Kunst, einen Wendepunkt. Wie er der erste Herrscher war,
dessen Kopf statt der Götterbilder auf die Münzen geprägt wurde, so war
er auch der Erste, dessen Gestalt in's Göttliche übertragen wurde. Damit
ist die streng griechische Anschauung ausgelöscht und der vergötterte
Mensch an die Stelle des vermenschlieliten Gottes getreten.
Bildr
Sfnh