Zweites Kapitel.
Die griech
ischc Plastik.
Geschichtliche lintwvicklul
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An seinem berühmten Apoxyomenos, von dem wahrscheinlich eine treffliehe,
18-16 in Rom aufgefundene lllarinorkopie, jetzt im Braccio nuovo des
Vatieans uns eine Anschauung giebt, trat dies Leichte, Feine, noch
gehoben (lureh den leisen Schwung und Rhythmus der Bewegung, ohne
Zweifel lebendig hervor. Der intelligente, dabei jugendlich schöne Kopf
mit dem frei und tliessend behandelten IIaar, der schlanke, knappe Wuchs
des athletisch (lurehgirbildeten Körpers, die elastische Bewegung der fein
gefügten Glieder, das Alles giebt uns an dieser schönen Statue den Ein-
druck jener Eleganz, die man an Lysippos" Gestalten rühmte. Das
Original, welches Ägrippa vor seinen Thermen, also in der Gegend des
heutigen Pantheon aufgestellt hatte, war in Rom so belicbtsdass, als
Tiberius es in seinen Palast zu versetzen wagte, er dem Unwillen des
Xiolkes nachgeben musste und es wieder an seine Stelle bringen liess.
Endlich haben wir ein Werk des niedern Genres, eine betrunkene
Flötenspielerin, und vielfache Thierdarstellungen, Hunde und eine Jagd,
einen gefallenen Löwen, Viergespanne verschiedener Art anzuführen. Als
besonders lebendig wird ein tmgezäulntes Pferd gerühmt, das mit ge-
spitzten Uhren dastand und einen Vordcrfuss hob, also in momenta-
11er Erregung (largestellt war. Fassen wir Alles zusammen, so erhellt,
(lass Lysippos die lebensvolle Naturwahrheit der altern pcloponnesisehen
Kunst weiter fortgebildet und dieselbe zur eharakteristisclieii Darstellung
des Individuellen (intwickelt- hat.
Eine HICYlOYllPÖlgG Verirrung des Naturalismus in nüchternen Realis-
mus tritt uns in des Lysippos Bruder Lysislralos entgegen. Wir kennen
zwar von ihm nur eine weibliche Portraitstatue, aber durch Plinius erfahren
wir von sehr bezeichnenden Neuerungen, die er in die Kunst eingeführt.
Denn er zuerst soll darauf verfallen sein, (lipsabgüsse nach dem lebenden
illodell zu machen, diese in Wlaehs auszugiessen und die so erhaltene
Form zu 1'ct0uel1i1'en.' Dass die auf solche Art entstandenen Werke bis
in's tleringfiigigstc jede Einzclnheit der Natur Wiedergaben, bedarf nicht
erst der ebenso klar ist aber, dass dies kleinliche Streben
nach blosser Achnliehkeit, oder vielmehr nach realistischer Congruenz der
Formen eine Verirrung war, welche vom Ziele der Kunst abführen musste.
Ein Jirzkopf, der im Apollotcinpel zu Kyrenc gefunden, neuerdings
nach London in's Britische Museum gelangt ist, scheint für die Richtung
des Lysistratos bezeichnend. Die trockne Behandlung der Formen, die
scharfe Detailausftihrung des geringclten, lockigen Haares und des kurzen
Barttlaumes am Kinn und über der Oberlippe, vor allein aber die Angabe
jedes einzelnen Harchens der Augenwvimpern mittelst kleiner Punkte, wie
es sonst an keinem antiken Werke gefunden wird, deutet (larauf, dass
Genrebild
und Anderes
Lysistratos.