Zweites Kapitel.
Die griechische Plastik.
Geschichtliche Entwicklung.
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Bedeutender als diese Künstler scheint Le0charcs' gewesen zu sein,
den wir bis gegen 328 V. Chr. thätig finden. Er war ein vielseitig be-
gabter Plastiker, denn er arbeitete nicht blos mit einem andern namhaften
Künstler, iglhcvznis aus Olynth, die Portraitbilder einer athcnisehen Bürger-
familie, sondern war auch später mit Lysippos an der Erzgruppe einer
Löwenjagd Alexanders beschäftigt und stellte ferner den grossen König
sannnt seiner-Familie in prachtvollen Goldclfenbeinstatuen dar, die, wie schon
aus der Anwendung dieses Materials zu schliessen, in idealer heroischer
Auffassung (lurehgeführt waren und zu Olympia aufgestellt wurden. Dem
idealen Gebiete gehörte auch seine Bronzegruppe des durch den Adler des
Zeus entführten Ganymed an, die uns in verschiedenen lilairmornachbil-
(hingen, namentlich einer trefflichen Gruppe des Vaticans erhalten ist.
(Fig. 67.) Geht hier die Darstellung eines schwebenden Körpers hart an
die Gränze des für die Plastik Erlaubten, so hat doch der Künstler das
Emporsclnveben in dem anmuthigen jugendlichen Körper trefflich aus-
gesprochen, und gewiss war im Original durch die zarteren, feineren Formen
desselben die Bewegung noch anschaulicher gemacht. Der auf der Erde
zurückbleibende Hiuid, der seinem Herrn mit klägliehem Geheul nach-
blickt, ist ein geistreicher Zug, nicht bloss um die Gruppe im Umriss ab-
zuiunden, sondern mehr noch, um auch (ladurclr das lrhnporsclnveben zu
versinnliehen.
Der zweite grosse attisehe Meister dieser Zeit ist Praivilelcs. Von
seinem Leben ist uns nichts bekannt als dass er von Geburt Athener war
und als jüngerer Zeitgenosse des Skopas etwa um 392 geboren wurde.
Wahrscheinlich war er der Sohn eines älteren attischen Künstlers
phisodol, von dem wir wissen, dass er manche Götterbilder geschaHen und
vielleicht zum ersten Male die neun Musen künstlerisch dargestellt hat.
Er pflanzte also die ideale Richtung der attischen Plastik fort, und bil-
dete den Uebergang von der älteren Schule zu seinem berühmten Sohne
Praxiteles. Dieser erscheint nun in seiner Richtung dem Skopas nahe ver-
wandt. Gleich jenem wusste er die leidenschaftliche Bewegung so ulie
die tiefe Innerlichkeit der Empfindung meisterlich zu schildern, suchte
gleich jenem den weichen Schmelz, die feine Anmuth jugendlicher Ge-
stalten zu idealen Gebilden zu vcrkliiren: aber zugleich scheint er sich
von jenem durch grössere Vielseitigkeit und reichere Fruchtbarkeit der
Eründung zu unterscheiden. Auch in der Technik zeigte er sich viel-
seitiger, da er zwar ebenfalls dem Marmor den Vorzug gab, aber auch als
trefflichcr Erzplastiker sich Auszeichnung erwarb. Das Alterthum kannte
von ihm gegen ein halbes Hundert einzelner Werke, und zwar nicht blos
Statuen, sondern auch mehrere figurenreiche Gruppen, die schon in den
Lübke, Gesch. der Plastik. 11
Leochares.