Zweites Kapitel.
Die griechische Plastik.
Geschichtliche Entwicklung.
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wenn sie auch an Hoheit und Reinheit hinter ihr zurückbleibt. Auf dem
Gebiete des Dra1na7s repräsentirt Euripides bereits den Uebergaug aus
dem hohen Styl in den gefälligen, der durch neue Reizmittel, durch ein
mehr pathologisehes Interesse die Menge zu fesseln sucht. Aristophanes,
ebenfalls noch eben in den Anfang dieser Zeit hineinragend, wirft sich in
seinen kühnen, genialen Komödien zwar zum Anwalt der ehrwürdigen
Erhabenheit eines Aeschylos auf und sucht gegen den Strom der neuen
Gesehmaeksriclitilng anzukiimpfen, aber schon in diesem Streben selbst
enthüllt sich deriOharakter einer neuen Epoche, welche der grosscn Ver-
gangenheit gegenüber auf den ersten Blick als ein Zeitalter von Epigonen
erscheinen muss. Und doch bringt dieselbe Zeit die Philosophie eines
Platon und die seines nicht minder grossen Schülers Aristoteles her-
vor, Systeme, in welchen sich die beiden Gegensätze aller griechi-
schen Lebensweise ebenso gegenübertreten, wie in der Plastik die hohe
Idealkunst der attisehen Schule des Phidias und die scharfe gründ-
liche Naturautfassung der Peloponnesier. Aber auch die Plastik erlebt
in dieser neuen Epoche eine reiche, herrliche Entfaltung, die sich an die
früheren Richtungen anschliesscnd, doch wieder durchaus als Kind der
eigenen Zeit ihre besonderen Aufgaben erfüllt, ihre besondere Auffassung
zur Geltung bringt.
Welches Feld blieb aber der Plastik in einer Zeit wie diese übrig?
in einer Zeit, welche die Begeisterung für ein hohes, gemeinsames
nationales Leben nicht mehr kannte; wo die Sonderinteressen der ein-
zelnen Staaten in rücksichtsloser Selbstsucht um die Herrschaft stritten;
wo derselbe egoistische Geist auch die Individuen erfüllte, Jeden für sich
sorgen und des allgemeinen Besten vergessen liess; wo, wie Demosthenes
klagt, die öffentlichen Gebäude vcrwahrlost oder elend gebaut werden,
die Privatwohnungen dagegen sich immer prächtiger erheben, während
früher die Hauser eines Miltiades, Aristides, Themistokles sich von den
Wohnungen jedes gewöhnlichen Bürgers in Nichts untersehieilen. Dazu
kam, dass die grossen Götterideale meistens in der vorigen Epoche
bereits geschaffen waren, dass die damals neu erbauten Tempel ihre
glänzende Ausstattung imd ihre Götterbilder grösstentheils schon be-
sassen, dass endlich die Mittel der durch die ewigen Unruhen und Kriege
erschöpften Staaten nicht mehr ausreichend waren für grosse Unter-
nelnnrmgen. Und doch öffnete sich die Kunst in dieser verworrenen Zeit
eine neue Quelle der Anregung gerade aus dem Verwalten des individuel-
len Lebens. In den kriegerischen Weehselfätllen, welche sich bis_in die
geringste Einzelexistenz fühlbar machten, hatte eine leidenschaftlichere
Stimmung sich der Gemüther bemächtigt. Man suchte in der Kunst nicht