Zweites Kapitol.
Die griechische Plastik.
Geschichtliche Entwicklung.
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Würfeln spielten, wegen ihrer hohen Vollendung von Manchen für das
vorzügliehste Werk des Alterthumsi gehalten; endlich zwei Kanephoren
und die Amazone zu Ephesus, mit welcher er den Phidias und andere
Meister besiegt haben soll.
Soviel erkennen wir aus dieser Ucbersieht, dass Kraft, Geschmeidig-
keit und Gelenkigkeit vorzüglich den Werth solcher Polykletischer Werke
ausgemacht haben. S0 sehr aber lag ihm an der Lebenswahrlreit der
Formen, der Richtigkeit und Harmonie der Verhältnisse, dass cr ein Buch
über die Proportionen des menschlichen Körpers abfasste und eine Statue
schuf, WOlCilC man den "Kanon" nannte, weil er in ihr die normale
Schönheit eines vollendet durchgebildeten jugendlichen Körpers dargestellt
hatte. Für die gediegene, sorgfältige, in allen Theilen vollkommene Aus-
führung war es von Wichtigkeit, dass er fast aussehliesslieh seine Werke
in Erz bildete. Wollte er aber die elastische Leichtigkeit beweglicher
Jugend zur sprechenden Erscheinung bringen, so war dafür nicht minder
wesentlich, dass er, wie berichtet wird, der Erste war, der die Gestalten
ganz auf einem Beine ruhen und das andere, leicht gehoben, mehr in spie-
lender, freier Bewegung sieh (larstellcn licss. Wenngleich die entwickelte
attische Kunst ähnliche Gestalten bereits aufweist, so besteht Polyklets
Fortschritt darin, dass er diese Art einer anmuthig bewegten Stellung
zum Prinzip seiner Darstellungen machte und (ladurch den Gestalten die
höchste Leichtigkeit und Elastizität der Erscheinung gab.
Obwohl nach dem Zeugniss der Alten Polyklet nicht gerade in
Götterdarstellungen, wohl aber in Mcnsehenbildern trefflich war und
darin das XVürdige, Ehrbare zu schönem Ausdruck brachte, schuf er in
seinen späteren Lebensjahren doch eine Idealgestalt, welche für die
folgende Zeit eine typische Bedeutung erlangt hat. Dies ist das kolossale
Goldelfenbeinbild der Hera für den nach einem Brande des Jahres 423
wieder aufgebauten Tempel der Göttin in Arges. Sie sass auf einem
Throne, die Stirn mit dem Diadem gekrönt, auf welchem die Charitcn und
Horen in Reliefs angebracht waren. In der einen Hand hielt sie das
Scepter, in der andern den Granatapfel; den Thron umrankte eine Rebe,
und ihre Füsse ruhten auf einem Löwcnfell. Von dem majestätischen Ein-
druck des Werkes zeugt eine Nachbildung aus späterer Zeit, der kolossale
Marmorkopf der IIera in Villa Ludovisi zu Rom (Fig. 62), ein Werk,
das im grossartigen Formcharakter die unnahbar-e Hoheit einer Gemahlin
des Allherrschei-s Zeus mit weiblicher Anmuth und fraulicher Würde paart.
Die strenge, gebietende Stirn wird zu huldvoller Liebliehkeit gemildert
(lureh das weiche, loekige Haar; auf den sanft gerundeten Wailgen blüht
unvergänglielie Jugendsehönheit, und der mächtige Bau der Nase, des
Kunsigxwist
Polyklots.
llcrabilrl z:
Argos.