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Zweites Buch.
scher der Meeriluth! Welche jugendliche Schönheit und Kraft spricht sich
in den Formen des bequem hingelagerten Theseus aus, der in ganzer
Herrlichkeit bis auf die Hände, die Füsse und die Nase erhalten ist! Wie
grossartig und lebensvoll, wenn auch ungleich mehr zerstört, ist der
Körper des Ilissus, der ebenfalls ruhig gelagert ist, aber in unvergleich-
licher Wahrheit der Bewegung auf den linken Arm gestützt, den Ober-
körper emporhebt, um auszusprechen, dass kein Theil des attisehcn Lan-
des unbewegt bleibt bei dem wichtigen Ereigniss; ja wie gewaltig ist selbst
llelies charakterisirt, von dem der Künstler nur den nervigen Arm und
den aus den Fluthen auftauchenden Kopf geben konnte, wenig und doch
vollkommen genügend, um die göttliche Kraft zu zeigen, welche die
feurigen Sonnenrosse zu bändigen vermag. Und wie prächtig sind end-
lieh die Köpfe dieser Rossc selbst, die feurig, lebensprühend aus den
Wogen auftauchen und deren muthiges Schnauben aus den weit geöffneten
Nüstern man zu hören glaubt. Ebenso herrlich ist der gleichfalls erhaltene
Kopf des einen Rosses der Nacht, der gleich jener die tiefste anatomische
Kenntniss mit der kühnsten und freiestcn Formbehandlung paart. Nicht
minder wahr ist in den bekleideten weiblichen Figuren das Leben und
die Bewegung der Formen durch das reichste und anmuthigste Spiel der
Gewänder nur um so reizender ausgedrückt, am vollkonnnensten vielleicht
in den Gestalten der Aglauros und Herse, deren grossartige Schön-
heit durch den Fluss der feingefalteten Gewänder liindurchleuchtet.
Ebenso vortrefflich ist die neben ihnen sitzende Gestalt der Pandrosos,
die an Hiessender, zierlicher Behandlung des Gewandes und der weichen
jugendlich blühenden Körperformen den beiden Schwestern gleich-
kommt. Aber auch die beiden sitzenden attisehen Horen auf der andern
Seite desselben Giebelfeldes sind von derselben Schönheit, nur dass die
ebenfalls sehr reichen Gewänder etwas einfacher, nicht ganz so zierlich
fein ausgearbeitet sind, wie jene. Auch bemerkt man, dass an ihnen,
sowie an der heraneilenden Iris die Rückseiten um einen Grad flüchtiger
behandelt sind, als die Vorderseiten, während sonst alle diese Statuen,
selbst in den Theilen, die "gar nicht für die Anschauung bestimmt waren,
mit derselben sich stets gleiehbleibenden, nirgends ermattenden künstle-
rischen Vollendung durchgeführt sind.
Ueberhaupt hat sieh nie wieder die sorgfaltigste Zierlichkeit der
Ausführung mit höchster Einfachheit einer erhabenen Formensprache so
vereinigt, wie hier. Das erkennt man selbst an dem kleinen Bruchstüek
der Athene vom westlichen Giebel, von welcher nichts als die rechte
Hälfte der Brust und der Ansatz des dazu gehörigen Armes erhalten
ist: genug, um die göttliche Erhabenheit der ganzen Gestalt zu ah-