Zweites Kapitel.
Die griechische Plastik.
Geschichtliche Entwicklung.
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Phantasie, sondern einer göttlichen Eingebung entsprungen schien, das
auf die Gemüther der Menschen mit der zwingenden Gewalt eines Abso-
luten wirkte! War hier das Erhabenste in vergängliche Formen ge-
bannt werden, so zeigen auch die' andren Götterbilder, die er geschaffen,
ein verwandtes geistiges Wesen. Vor allem die Sehutzgöttin seiner Vater-
stadt, die er so oft gebildet hat. In welcher Bedeutung er sie auch er-
fasste, als kriegerische Vorkampferin, oder als friedliche, jungfräuliche
Sehütztzrin, immer war bei aller Schönheit der Charakter einer hohen
geistigen Würde das Vorwaltende. Daher sagt ein griechisches Epigramm,
indem es die Athene des Phidias mit der Aphrodite des Praxiteles ver-
gleicht, nur einem Rinderhirten wie Paris könne es einfallen, die Aphrodite
der Athene vorzuziehen. Aber atleh selbst mehrere Statuen der Liebes-
göttin, die Phidias gescvhaden, namentlich ein gepriesenes.Goldelfenbein-
bild zu Elis, trugen das Gepräge einer mehr geistigen, himmeleiitsprosse-
neu, als sinnlichen Schönheit, wie denn auch nur Aphrodite Urania es War,
welche der Meister verkörpert hat. Verbinden wir nun damit den Aus-
spruch der Alten, Phidias allein habe "Ebenbildcr der Götter gesehen,
Er allein sie zur Anschauung gebracht, so (lürfen wir von ihm sagen,
was für die Poesie von Homer gilt: er habe den Griechen ihre Götter ge-
schaffen. Darin liegt der unermessliche Fortschritt, den er über seine
Vorgänger hinaus gethan. Wie leblos und starr ist noch am Tempel von
Aegina die Gestalt der Göttin! Erst durch Phidias gewinnen die plasti-
schen Götterdarstellungen Geist, Charakter und Leben. Er ist daher in
eminentem Sinne Götterbildner zu nennen. Damit stimmt denn selbst über-
ein, was wir oben enväliiiteii, dass er in Amazonenbildern von Andern
übertroffen wurde. Wo es nicht auf geistigen Ausdruck ankam, dahin
neigte sein Genius nicht.
Dass neben dieser geistigen Bedeutung die Werke des Meisters durch
höchste künstlerische Ylollendung der Form eben so sehr ausgezeichnet
waren, wird nicht minder bezeugt. Dies gilt nicht bloss für die völlige
Behei-rsehung jeder Art von 'l'eehnik, der Goldelfenbeinarbeit, der ltlarmor-
plastik, der Erzbildnerei, die er sämmtlich in gewaltigen Kolossalwerken
angewendet hat: selbst der zhrrliehsten Ciselirkunst, die er vielfach bei
seinen grossen Arbeiten, aber auch für loesondre Zwecke, gleichsam zur
Erholung übte: auch in höherem Sinne muss er den weiten Bereich der
damaligen Bildnerkunst nach allen Seiten vollständig beherrscht haben.
Als gcdankenreiehen Schöpfer ganzer Cyklen von Bildwerken werden wir
ihn noch kennen lernen; der Composition war er im höchsten Grade
lileister; die organischenBedingungen jeder Gattung von Gestalten lagen
klar vor seinem Blick, und selbst die feinsten und verstecktcsten Gesetze
Phidins'
Tochnik.