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Zweites Buch.
der Meister gerade nicht in der Darstellung idealer Weiblichkeit seine
Stärke suchte. Dies Werk, welches in den Kreis der griechischen Kunst
zum ersten Mal die Sphäre des niedern Genres einführt, giebt uns aber
einen wichtigen Aufschluss über die Kunstrichtung des Meisters. Denn
was in solchem Gegenstande den Plastiker reizen-konnte, war doch nur
der drastische Ausdruck höchster Lebendigkeit, der hier (lurch den Con-
trast mit dem Schickliehen noch eine Verschärfung erfuhr. Eine gleich
frappante Lebenswahrheit muss die weltberühmte Kuh gehabt haben, auf
welche das Alterthum Dutzende von Epigrammen hervorgebracht hat,
obwohl kein einziges von ihnen einen Wink über Stellung und Bewegung
des gepriesenen Thieres enthält. Nur darin sind alle_ einig, ihre Wahrheit
und Natürlicchkeit zu preisen, ja sie wissen die mögliche Vcrivechselung
mit der Wirklichkeit nicht genug hervorzuheben. „Ein Löwe will die- Kuh
zerreissen, ein Stier sie bespringen, ein Kalb an ihr saugen, die übrige
Heerde sehliesst sich an sie au, der IIirt wirft einen Stein nach ihr, um
sie von der Stelle zu bewegen, er schlägt nach ihr, er peitscht sie, er
tutct sie an; der Ackersmann bringt Kummet und Piiug sie einzuspannen,
ein Dieb will sie stehlen, eine Bremse setzt sich auf ihr Fell, ja Myron
selbst verwechselt sie mit den übrigen 'l'hieren seiner Ileerrle." (Göthe)
Das Wunderwerk stand noch zu Cicei-ois Zeiten auf der Pnyx zu Athen,
wurde aber später in den Friedenstempel nach Rom versetzt. Kaum
minder berühmt war die Statue des Lakediinioniers Ladas, der im Wett-
lauf zu Olympia gesiegt hatte. Der Künstler hatte ihr einen solchen Aus-
druck von Lebendigkeit gegeben, dass es schien als werde der Läufer
von der Basis herabspringen, und als selnvebe bei der höchsten Anstren-
gung, den Sieg zu erringen, der Rest des Odems nur eben noch auf dem
Rande der Lippen.
Dürfen wir nach alledem als das vorzüglichste KGllllZPÜihP-ll Myro-
niseher Kunst die lebensvollste Natur-Wahrheit betrachten, so gewahrt uns
ein anderes Hauptwerk seiner Hand, der Diskoswverfer, für diese Charakte-
ristik einen festen Anhalt, da dasselbe uns in mehreren Marmornachbil-
dungen, vorzüglich jenem strhünsten Exemplar im Palazzo Massimi zu
Rom erhalten ist. (Fig. 45.) Lucian giebt in wenigen Worten von diesem
Werk eine treffende Beschreibung: „Von dem Diskoswerfer sprichst du,
der sich zum Wurfe nicdcrbeugt, mit dem Gesicht weg gewendet nach der
Hand, welche die Scheibe halt, und mit dem einen Fusse etwas nieder-
kauert, als wolle er zugleich mit dem Wurfe sich wieder erheben." In der
That, man kann ilichts Lebensivolleres sehen, als dies edle Bild jugend-
licher Kraft und Schönheit, als diesen in Marmor fest gebannten Moment
der rapidesten schwungvollsten Bewegung, welcher das ganze "Muskelspiel