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Zweites Buch.
Ehe wi1' zur Betrachtung der höchsten Blüthenepoche übergehen,
sind noch drei grosse Meister zu erwähnen, welche an der Schwelle der
neuen Zeit stehen und doch in manchen Beziehungen noch der älteren
Kmmnis- Krmst angehören. Der erste ist KaZamzIv, der durch die Thatigkeit und
_ Richtung seines Schaffens als Athencr bezeichnet werden kann. Er muss
um 468 bereits einen namhaften Ruf erlangt haben, weil er damals neben
Onatas von Aegina an dem ehernen Viergespann arbeitete, welches der
'I'yrann Hieron von Syrakus nach Olympia weihte. Kalamis erscheint in
seinen Gegenständen vielseitiger als i1'gend'ei11e1' der früheren Meister.
Nicht blos Götterbilder, wie Zeus Ammon, Apollon, Hermes, Bakehos,
sondern auch heroische Darstellungen, namentlich die Ileroinen Alkmene
und Hermione, ferner Knaben mit Rennpferden, Vier- und Zweigespanne
werden von ihm erwähnt. Dazu kommt die vielseitigste Ausbildung der
Technik, da er in der lliarmorarbeit, der Goldelfenbein- und der Erzplastilz
erfahren war und ebensowohl auf Kolossalbildungen, wie jener Erzkoloss
des Apollo von dreissig Ellen Höhe, der aus Apollonia nach Rom ge-
bracht und dort öffentlich atlfgestellt wurde, sich verstand, wie er als
geschickter Ciseleur silberner Becher berühmt war. Am meisten werden
bei den Alten seine Rossc gepriesen, die von solcher miübertretflicher
Schönheit und Lebendigkeit waren, dass Praxiteles auf einem Viergespann
des Kalamis den Wagenlenker durch einen neuen von seiner eignen Hand
ersetzte, damit die Rosse an Vollkommenheit der Bildung ihren Lenker
nicht übertrafen. Wenn dann ferner unter den andernVlTerken des Kalamis
vorzüglich seiner Alkmene lllld der Sosandra das Lob edler sittigei- An--
mnth gespendet wird, so vollendet sich tms das Bild des Künstlers dahin,
dass er bei vollkommener Schönheit und Freiheit seiner Thiergestalten
die menschliche Figur nicht ganz ohne die Befangenheit der herge-
brachten Kunst, aber doch mit einer zierlichen Anmuth lmd dem Ausdruck
milder Empfindung darstellte. Von einem seiner Werke, dem für Ta-
nagra gearbeiteten widdertragenden Hermes (Kriophoros) findet sich in
England im Privatbesitz eine Marmomachbildnng, welche in der symme-
trisch gebundenen steifen Haltung des Gottes und dem lebendigen natur-
wahren Charakter des Thieres die Bedeutung des Künstlers gut aus-
spricht. Eine Münze von Tanagra weist übereinstimmend auf dasselbe
Vorbild hin.
mgnrtls.
Der zweite dieser Meister ist Pyll2ag0ra.s' aus Rhegioil in Gross-
grieehenland. Gegenüber der idealereil Richtung des Kalamis "vertritt er
einen strengeren Naturalismus, erscheint nach dem geistigen Gehalt und
der teehnisehen Entwicklung einseitiger als jener, da von ihm fast nur
Athletenstatuen, und zwar sitmmtlich in Erz, gerühnit werden, das he-