Zweites Kal
ütel.
Die griechische Plastik.
Geschichtliche Entwicklung.
93
Die ältesten unter diesen sind die kolossalen Marmorstatueii, welche bei
Milet die heilige Strasse vom Hafen nach dem
der Branchitlen, ähnlich wie die ägyptischen Sphinxallecn einfassten. Sie
sind gegenwärtig zu London im britischen Museum der Betrachtung zu-
gänglicher geworden, so dass wir nicht allein den von lilüller nach mangel-
haften Zeichnungen ihnen beigelegten Prädikaten „höchster Simplicität
und Rohheit" widersprechen müssen, sondern auch über die näheren
Unterschiede, die selbst Ludwig Ross noch entgangen sind, berichten
latinnen. Es sind im Ganzen zehn Statuen von sitzenden männlichen und
weiblichen Gestalten in verschiedner Grösse, doch sämmtlieh übel-lebens-
gross: steif und bewegungslos, die Arme eng an den Körper geschlossen
und die lliände auf die Kniee gelegt, mit schwerfälligen, fast plumpen
Körperverhältnisscn, breiten Schultern, kräftigen, rundlichen Formen,
besonders hoher, bei den weiblichen Gestalten sehr voller Brust. Die
Behandlung ist durelnveg eine architektonisch massenhafte, mit geringer
Andeutung des organischen Gliedergefüges. Doch sind an den IIänden
die Finger und an den Füsseil die Zehen mit richtigem Verständniss mehr
angedeutet als ausgeprägt. Von den Köpfen ist nur einer erhalten, und
dieser zeigt rundliche, volle, breite Formen und im Munde ein stereotypes
Lächeln. Das Haar ist in Löckchcn und Wellen abgetheilt und in reicheren
Massen hinter die Ohren zurückgelegt. Die Ohren sind gut und im All-
gemeinen richtig aufgefasst, doch eben auch ohne schärfere Ausführung.
Bekleidet sind die Statuen mit einem Untergewande, dessen genaue
Parallelfalten senkrecht herabfliessen, während das darüber gebreitete
mantelartige Obergewand fest angezogen und demgemäss mit ähnlichem
Gefält in sehräglaufenden Parallellinien charaikterisirt ist. Von (liescn
Werken kann man unter allen griechischen am ersten sagen, dass sie in
dem (lurch typische, eonventionelle Auffassung befangenen und (lnrch
architektonische Gesctzmässigkcit bedingten Naturgcfühl ägyptisch er
Statuen ausgeführt seien. Gleichivohl weicht das Volle mid Breite der
Formen, der Typus des Kopfes, die Behamlhmg der Gewänder eben so
bestimmt vom ägyptischen ab und zeugt von selbständigem, altgriechi-
schem Formgefühl. Zu diesen sitzenden llienschengestalten kommt noch
eine Anzahl eben so alterthümlicher hiarmorlöwen, die bei aller Strenge
typischer Bellamlliiiig ebenfalls eine richtige Naturbeobachtung vcrrathcn.
So sind gewisse Einzelheiten, z. B. die Rippen, (leutlich angegeben, die
Mähnen (lagcgen nur durch eingcgrabne Zipfel zingctleutet. Je entschiedner
sie sich hierin von dem zierlichen Naturalismus assyirischer Werke unter-
scheiden, desto näher stehen sie gewissen itgylatischen Arbeiten, nament-
lich den beiden vom Berge Barkal herrührendran und der 18. Dynastie an-