Einleitung.
Ein anderer Fehler, dem wir in den Erklärungen der Doppelchöre bis-
weilen begegnen, ist die Nichtbeachtung des Unterschiedes zwischen dem
Motiv zur Anlage derselben und der Bestimmung, die man manchmal später
dem zweiten Chor gab. Auf diesem Irrthum basirt der Erklärungsverstich
von Kreuser. l) Als dieser bei einigen Westchören der Bezeichnung "Pfarrchor"
begegnete, glaubte er darin den Schlüssel zur Erklärung aller ähnlichen An-
lagen zu besitzen. Allein die Bezeichnung "Pfarrchor" findet sich weder in
den ältesten doppelchörigen Bauten, noch dulden alle späteren eine Anwendung
derfielbell- Aehnlich folgerte in übereilter Weise Schmid 2) aus dem alten
Verbot, dass ein Priester an einem Altar Messe lese, an welchem an demselben
Tage schon ein Bischof celebrirt, den Grund zur Errichtung eines zweiten
Hochaltars gegenüber dem bestehenden Chor der Kirche, „da doch besonders
in Kathedralkirchen gewiss öfters nach der Celebration des Bischofs noch ein
anderer feierlicher Gottesdienst gehalten werden sollte."
Wir schliessen unsere einleitenden Bemerkungen mit der Erwähnung einer
einschlägigen Schrift von Kratz. 3) Nach ausführlicher Widerlegung einiger
bisher gangbarer Erklärungen bringt der Verfasser eine neue Deutung auf
Grund einer im Archiv des Michaelklosters zu Hildesheim gefundenen Notiz,
aber Seine Folgerungen erscheinen uns nach zwei Seiten anfechtbar. Es war
nach Kratz der Westchor der Michaelskirche für die Abend- und Nachtandachten
bestimmt, da es in einer Urkunde Abt Hermanns I. von 1484 über eine
Schenkung einer gewissen Margarethe Ziunpelmann heisst, dass eine bestimmte
Summe Geldes verwandt werden solle zur Unterhaltung einer Lampe, wenn
die zwölf Lectionen in dem Chor vor dem Altar des heil. Livinius, d. h. im
Westchor, gehalten würden. Daraus kann nach unserer Ansicht für die ur-
sprüngliche Bestimmung des Westchores, für das Motiv seiner Anlage, eben-
soivenig etwas gefolgert werden, wie aus Kratzs zweitem Argument, dass die
Veslßrgloßkön im westlichen Vierungsthurme hingen, wofür das älteste Doku-
ment von 1652 datirtl Dass 1484 der Westchor zu den Abendandachteil
benutzt wurde, beweist nichts für seine ursprüngliche Bestimmung (vgl. unten
die nähere Besprechung dieser Kirche, 24); einen zweiten Fehler begeht
Kratz aber durch die eilfertige Uebertragung der neu entdeckten Erklärung
tler Doppelchöre auf alle anderen Monumente gleicher Anlage, von denen er
übrigens nur die Godehardskirche in Hildesheim, den alten Dom zu Cöln, den
Dom von Bremen und den Bau des Eigil zu Fulda anführt.
Eher Vermögen wir der Schlussbemerkung von Kratz beizustimmen, wenn
er den Grund zur westlichen Emporenanlngc in den Kirchen der Frauenklöster
I) Krauser, Der christliche Kirchenbail. 2. Aufl. Bd. I, S. 83.
2) Schmid, Der christliche Altar und sein Schnmck. S. 244 f.
3) D13 M" Kratz: l1V0ZLl dienten die Doppelchöre in den alten
Klosterkirchen? Hildesheim 1876.
CathedraL,
Stifts-
und