XLVII.
ENGLAND
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heiten, die plötzlich die Lebenskraft aufzehren so spiegeln diese
Stimmungen nicht antike Denkweise, sondern die vom Schlusse des
I9. Jahrhunderts wider. Ebenso frei und selbständig verhält sich
Burne-Jones zum Inhalt alter Legenden. lir nimmt sie auf, bildet
sie aber um, entdeckt in ihrem Kern moderne Leitlenschaiten, versetzt
sie mit nüai1ce111'eicliei1 Zügen, die er ohne NVeiteres dem Inhalt einer
neuen Weltanschauung und seines Zeitalters entnimmt. Die mensch-
liche Seele, alt geworden, blickt gleichsam zurück auf den Weg, den
sie ging, und Endet die Seele des Greises schon latent in dem Kind,
das der Vater des Mannes. Alle Gestalten seiner Bilder sind um-
schwebt von einem Diinnnerlicht, das nichts gemein hat mit der
Tlageshelle. in die das Renaissancezeitalter die Antike rückte. Es bleibt,
wenn man sie deuten will, ein unaulgelöster Rest, ein Zauberhauch,
der ihren Zug umwittert, etwas Geheimnissvolles, Märchenhaftes, das
sich nicht fassen lasst. lis ist die schwebende Stimmung, die Em-
pfindung unseres Zeitalters. XVie aus einem Zauberspiegel starrt unser
eigenes inneres Selbst uns gespenstisch entgegen.
Und wie er den ganzen Geist der alten Legenden unnnodelt,
so übersetzt er auch künstlerisch die entlehnten Gestalten sofort in
seine eigene Formgebung, macht sie in Tiyiuus, Körperbau und Halt-
ung ohne Weiteres ihrer neuen Rolle dienstbar.
Schon die ganze 'l'e1nperattn' seiner Bilder ist eine andere als
bei den Meistern des Quattrocento. Auch bei Botticelli grünt das
junge Laub und prangt in saftiger Fülle. Aber bei Burne-loiies gleicht
die Vegetation einem der riesigen NViilder auf Sumatra oder Java.
Alle PHanzen sind üppig und liarlwenpriiclitig und scheinen unter einer
übermächtigen Fillle von Lebenskralt zu ersticken. jeder Baum macht
den Eindruck schnellen, durch tropische Hitze geil emporgetriebenen
XVachsthums. Saftige Schmarotzerpflaiizen winden sich von Stamm
zu Stamm; Guirlanden von Schlinggexrviichsen durchranken wucherntl
die Aeste.
Und wie die Vegetation üppiger, sinnlicher, sind die Menschen
hungrigen schinaclitender. Die herbe Anmuth, Härte und Sprödigl
keit des Quattrocento ist abgeschwächt in emplintlsanie Melancholie.
Die triittnierische Holdseliglteit Botticellis verwandelt sich in feierliche
XVeihe, zarte Hinliiilliglteit, wollüstige Müdigkeit, weichen Weltschinerz.
Malt er antike Sibyllen, so liegt über ihnen zugleich ein Hauch der
überirdisch weltflüchtigen Askese des Mittelalters und der schwer-
müthig bleichsüchtigen Blasirtheit vom Schlusse des I9. Jahrhunderts.