Volltext: Geschichte der Malerei im XIX. Jahrhundert (Bd. 3)

XLVII. 
ENGLAND 
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des Himmels steht und auf die Erde herabblickt. Sie denkt an den 
Geliebten, an die Zeit, da sie im Himmel ihn wiedersehen wird, an 
die Hymnen, die sie ihm wird singen lassen. Lilien ruhen in ihrem 
Arm und Chöre von Engeln schweben ringsum. Handlung oder 
Rhetorik der Geberden gibt es nicht bei Rossetti. Seine gothisch 
geschwungenen, langgestreckten Figuren sind von einer Unbeweglich- 
keit, einem Schweigen, einer fast schwebenden Haltung wie Traum- 
gestalten, die lange vor dem Blick des Träumers stehen, ohne körper- 
liche Gestalt zu gewinnen. Sie gleiten vorüber wie Schemen und 
Schatten, den Blüthen am Baum und den Aehren des Feldes ver- 
gleichbar, die willenlos unter dem Winde schwanken. Sie reden 
nicht, sie weinen nicht, sie lachen nicht, sie sprechen nur mit den 
ruhigen Händen, den sinnlichsten, durchgeistigtsten. Händen, die je 
gemalt wurden, und den Augen, den traumhaft fascinirendsten, die 
seit Leonardo da Vinci in der Kunstgeschichte vorkamen. Elisabeth 
Siddal ist in den Bildern, die Rossetti ihr widmete, ein wundersam 
erhabenes Weib, verklärt durch die Mystik einer seltsamen Schönheit. 
Sie erscheint als ein gewaltiges Wesen, eine Art Sibylle, Sirene oder 
Melusine, die nichts zart Weibliches hat, sondern auf grossem Nacken 
einen scharf accentuirten Kopf trägt mit üppigen Lippen und langem, 
dickem Haar, das ihr struppig und kraus in den Hals fällt. Sie übt 
mit ihren blendenden Junoarmen und wollustathmenden Schultern 
eine hypnotisirende und zugleich beunruhigende Wirkung. Man hat 
Furcht, ihr zu nahe zu kommen, denn man fühlt, dass sie zerdrücken 
würde, wen sie in die Arme schliesst. Von Lendenkraft zeugt dieses 
starke, kräftig gerundete Kinn. Ueppig sinnlich ist der blühende 
Busen. Düstere Räthsel bergen die tiefliegenden, in dämonischem 
Feuer leuchtenden Augen, tinheimliclt wollüstig wirken die schwellen- 
den, wie zum Kuss sich bäumenden Lippen. Rossetti drapirt sein 
Idol venezianisch, mit reichen Gewändern, die in ihrer Farben- 
stimmung Giorgione ähneln, und streut wie Botticelli stark duftende 
Blumen neben ihr aus, Rosen besonders, die er mit wunderbarer Voll- 
endung malt, auch Hyacinthen, die er liebt und deren berauschender 
Duft auf alle seine Sinne "wirkt.  
Dieser Geschmack für schöne, tiefleuchtende Farben und reiches 
Beiwerk ist im Uebrigen das Einzige, was der Painter-Poet vom 
Maler hat, wenn man darunter den versteht, der sich an der Schön- 
heit der sichtbaren Welt berauscht. Seine Zeichnung ist oft mangel- 
haft; die von den reichen schweren Gewändern umflossenen Körper
	        
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