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England.
IE ist es möglich, dass auch diesmal England führend war,
N. I dass selbst die neueste idealistisch-romantische Strömung der
europäischen Kunst hier ihren Ausgang nahm, diese Kunst
für Mandarine, die das Zarteste, Duftigste geschalien, was die Malerei
des I9. jahrhuiltlerts aufweist? Kann ein Engländer, ein Matte1'til'l'i1ct_
mensch, der sein Glück im Comfort und einem praktischen Wirkungs-
kreis sieht, Romantiker sein? Ist London nicht die prosaischste Stadt
Etiropzts? Ohne Zweifel liegt gerade hierin die Erklärung, warum
dort wo obendrein die naturalistische Kunst- am längsten und
stärksten herrschte der Neuromantisinus am frühesten zu Worte
kam. Er war eine Reaction gegen die Prosa des Alltatgslebens,
wie die englische Landschaft im Beginne des ]ahrhuntierts eine
Keaction gegen die Grossstadt gewesen. Um dem Pfiff der Loco-
motiven, dem rastlosen Treiben im Kampf um's Dasein zu entgehen,
rettet sich die geistige Elite in eine entlegene Welt, eine Welt, in
der Alles anmuthig und schön ist, die Gefühle zart und erhaben,
eine Welt, in der keine Rohheit, kein Misston, keine Brutalität und
Wildheit die Harmonie idealer Vollkommenheit stört. Die Künstler
werden zu Phantasieschwelgern. die sich aus der Wirklichkeit in ein
selbstgeschztifenes Geistesleben flüchten, aus dem nebligen London der
Eisenbahnen in das sonnige Italien Botticellis wandern, um dort, im
Lande der Poesie, auszuruhen, und süsse Stimmungen, liebliche Bilder
mit nach Hause zu bringen. Zugleich fanden sie bei den Primitiven
jene Einfachheit, die überreizten Geistern doppelt rntmdet. Die Eng-
länder waren, nachdem sie Byron, Shelley und Turner gehabt, artist-
ische Gourmes, die alle Genüsse im Reiche des Geistes ausgekostet
und nun auf Werke sannen, durch die der Phantasie ein neuer Schön-
heitsschauer werde. Bei den primitiven Meistern entdeckten sie
alle Eigenschaften, die seit dem 16. Jahrhundert. aus der Kunst cnt-
schwandcn: unbeholfene Reinheit und tmschtildigen rührenden Natu-