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XLVI.
DAS
NEUIDEALISMUS
WEsEN
alltäglicher Stimmung. Wenn der Sommer kam und das Gras dicht
und tippig auf den Wiesen wucherte und die Saaten auf den weiten
Aeckern wogten, dann sagten die Maler wohl, dass es eine schöne
Zeit sei, und malten Landschaften, aber sie waren keine besonders
poetischen Naturen, kannten tmbestimmte Sehnsucht so wenig wie
wache Träume. Die Neuesten ergänzen ihre Vorgänger durch eine
weit kräftigere Betonung des Stimmtmgselementes. Sie schwelgen
mit den Augen in den tausend subtilsten Parbennuancen der Natur.
inventarisiren gleichsam die Eindrücke. die zu den köstlichsten Reizen
eines Auges gehören. Die Natur zieht sie an, wenn sie bizarr ist,
und sie vernachlässigen sie, wenn sie alltäglich wird. Namentlich
das kitlte, wahrheitsliebende Tageslicht ist ihre Sache nicht. In dem-
selben Maasse wie das Occulte im Seelenleben, reizt das Occulte in
der Natur. Aus dem Dunkel der Nacht, aus dem Schleier des Nebels
blickt die Welt mit riithselvollereit Augen und lasst tiefere, seltsamere
Hintergründe ahnen. Dem Nebel streben daher die Feinsten und
Sensibelsten mit innerlicher Liebe zu. Besonders der Abend behagt
ihnen. wenn die Farbe am V erklingen ist und gespenstische Schatten
auftauchen, wenn ein weicher DllllStllklllCll über der Erde lagert und
geheimnissxttwll ltlztgentle Stimmung aus der Landschaft tönt.
Selbst die Portratmalerei zeigt eine andere Nüance. In den
Bildnissen der vorausgegangenen Periode stehen ganze Menschen
da, in ihrem Werktagscharttkter, in schneidigei" Charakteristik vor
Augen gestellt. Die Neuesten lieben ein seltsames Dämmerlicht. Das
Körperhafte, die Form, die Wirklichkeit tritt zurück. Etwas Ueber-
sinnliches, die Ahnung einer andern tinbektinnten Welt, in die die
Gestalten ltineinschweben, oder aus der sie herkomtnen, soll den Be-
trachter umfangen. 'l'rau1nhaft, wie aus Nebelschleiern schimmern
die Figuren hindurch wie man ferne, liebe Personen sieht, wenn
man die Augen schliesst und sich im Geist zu ihnen versetzt.
Doch hauptsächlich haben auf dem Gebiete der monumentalen
Malerei sich die Truppen zusammengezogen. Nachdem bisher die
künstlerischen Elemente sich fast ausschliesslich mit der Oel, Pastell-
und Aquarellmalerei beschäftigt und die Erledigung LlCCOfHtlVCf Auf-
träge Eklektikern zweiten Ranges überlassen, drangen jetzt gerade die
Vorgeschrittensten von der Tafelmalerei weg dem Fresko zu. Zolas
Definition, Kunst sei Natur gesehen durch die Brille eines Tempera-
mentes, gilt nicht mehr vollständig. Ein ganz beträchtlicher Theil
der Kunst ist rein decorativ geworden. Die Wandmalerei in ihrer