Volltext: Geschichte der Malerei im XIX. Jahrhundert (Bd. 3)

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XLVI. 
WESEN 
DAS 
NEUIDEALISMUS 
bare Form bot. Erst als um die Mitte des Jahrhunderts der Cha- 
rakter des Gesammtlebelis sich deutlicher auszuprägen begann. gelang 
es ihr, die äusserlichc Physiognomie der Zeit zu packen. Noch 
schwerer wird es ihr werden, für all tiie geistigen und seelischen 
Widersprüche, die das zur Neige gehende Jahrhundert gezüchtet, für 
die Linsagbai" Flüchtigen Stimmungen des modernen Nervensystems, 
für all die nüancenreichen, prislnenartig nach allen Seiten aus- 
strahlenden Sensationen dieses seltsamen jahrhundertendes den sinn- 
lichen Ausdruck zu formen. Aber dass sie an der Arbeit ist, lässt 
sich schon heute verfolgen. 
Ein bezeichnendes Symptom der Giihrung konnte bereits darin 
gesehen werden, dass sich das Interesse der Maler wieder intensiver 
einigen Perioden der iiltern Kunstgeschichte zuwandte  nicht dem 
majestätisch iiusserlichen Schwung der Rafaelschtlle, aber dem eckigen 
Archaismus und durchgeistigten Eniphndtingsleben des Quattrocento. 
Die Priinitiven, die Byzantiner, die Miniaturnialer und Bildhauer des 
Mittelalters zogen in ihren Bann. Mona Lisas räthselvolles Lächeln 
bezauberte neu, und die zarten Jungfrauen Carlo Crivellis mit der 
zierlich hieratischen Eleganz ihrer Bewegungen, die kindlich melan- 
cholischen Madonnen Botticellis mit ihrem nixenhaften, in's Unend- 
liche starrenden Blick schienen so xxiahlverwandt, als ob sie unter 
uns wandelten. Selbst unter den ältern modernen Meistern wurden 
vom Tiagesgeschmack plötzlich die vibrirendsten, idealistischsten be- 
vorzugt: der Ruhm Corots wuchs und überstrahlte die Berühmtheit 
der andern grossen Landschafter von Barbizon. Aus dem ganzen 
Werke Millets war das Bild, das den höchsten Preis erzielte, das 
einzige idealistische des Malers: der Angelus. Deutschland entdeckte 
Schwind. Man sah in seinen Malereien Geständnisse einer reinen, 
zitternden Mädchenseele, glaubte bei ihm jene Heiterkeit ohne Weh- 
muth zu finden, die wir nicht mehr kennen und wonach wir uns 
so glühend sehnen. Konnte man nicht suchen, die Lücken auszu- 
füllen, die der Realismus gelassen, ihn zu ergänzen und zu krönen? 
 der Impressionismus selbst vermittelte den Uebergang. 
Nachdem man einmal Courbets Lehre von der verite vraie durch 
den Zusatz ergänzt hatte, dass ein Stück Wirklichkeitsdarstellung erst 
zur Kunst werde durch das Temperament, das sich datrin geltend 
mache, dass das Wesentliche an der Kunst nicht das Document 
in seiner photographischen Plattheit, sondern der Mensch sei, der 
sich darin ausspreche, War von selbst die Möglichkeit gegeben, über-
	        
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