XLVI.
DAS
WESEN
IALISMUS
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SOIIIICIISClIiYIU. die Pariserin mit dem Blumenbouquet. Und wir
waren schliesslich über Alles sehr wohl informirt.
Doch brachten diese Bilder auch das Innenleben des 19. jahr-
hunderts zum Ausdruck, die geheimen Schmerzen und Hofhitingen,
die unsere haltlose Zeit bewegen? Nicht nur der ganze Zuschnitt
des iiusseren Daseins hat sich seit den "Tagen der alten Meister
geändert. Wir haben neue Gefühle entdeckt, wie die Wissenschaft
neue Farben entdeckte, haben tausendt unbekannte Nuancen, tausend
nothwendige Rafiinements erfunden. Lange brauchten wir, um Kinder
unserer Zeit zu werden, aber nachdem wir in ihr heimisch geworden,
fühlen wir desto mehr auch ihre eintönige Prosa. Nicht nur in der
wirklichen, uns umgebenden Welt leben wir, auch in einer innern,
die wir selbst uns aufbauen und die viel schöner, glänzender, selt-
samer ist als die, auf der wir mit zwei Füssen hülflos dahinstolpern.
KVir haben das Bedürfniss, auf den Fittigen der Phantasie in das
weite Luftgebild uns aufzuschwingen, Schlösser in den Wolken zu
bauen, ihren Aufbau und ihren Einsturz zu schauen, den Launen ihrer
beweglichen Architektur in eine neblige Ferne zu folgen. Je farblos
grauer die Gegenwart, desto lockender umgaukelt die märchenhafte
Pracht vergangener Schönheitsvxrelten. Gerade die Banalität des All-
tagslebens macht mehr als jemals empfänglich für den zarten Reiz
alter Mythen, und wir lassen sie zugleich kindlicher und feinfühliger
als jede frühere Zeit auf uns wirken, weil wir sie mit neuem durch
die Sehnsucht geschärftem Auge betrachten. Auch religiöser, gläubiger
sind wir wieder geworden. Die positivistische Philosophie entzündete
die Wissbegierde, aber befriedigte sie nicht, und eine Richtung zum
Uebernattirlichen war das Ergebniss.
Man hat für alle; diese unrealistischen Neigungen je i1acl1 dem
Lande, wo ihr Quell aus dem Boden sickerte, verschiedene Namen er-
funden: religiöse Reaction im öffentlichen Leben, Mysticismus, Spiri-
tismus und Theosophismus auf geistigem Gebiete. Der durchgehende
Charakterzug ist, dass das lange zurückgediininite Innenleben einen Aus-
druck verlangte, das Gefühl sich gegen die Wissenschaft empörte. Unter
diesem Einfluss bekamen alle Gebiete des Geisteslebens mit einem mal
eine andere Marke. Die Musik, jener höchste Gefühlserreger, steht
Plötzlich im Mittelpunkt alles Interesses. Selbst Frankreich, das nichts
Höheres geltannt als die scenische Geschicklichkeit Meyerbeers, das mit
Ülfenbtich gelacht, Berlioz nicht verstanden und deutsche Musik aus-
gephffen hatte, geriith in den symphtinischen Bann Richard Wagners.
hlnthcr, Moderne Malerei in. 29