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dem Folgenden ein Erbe latenter Kräfte, fortbildungsbedürftiger
Formen, beunruhigender Fragen. Deshalb ist die Unähnlichkeit von
Künstlern zweier Menschenalter an demselben Ort bei engem Zu-
sammenhang erheblich grösser, als der Unterschied. gleichzeitiger an
verschiedenen Orten bei völliger Unbekanntschaft. Schüler sehen
Lehrern, unter deren Dach sie jahrelang gearbeitet, sobald sie sich
auf eigene Füsse stellen, sehr tinähnlich; Meister derselben Epoche
aus verschiedenen Nationen, die nie von einander gehört, sehen
einander oft zum Verwechseln illlllllClls. Diese Worte aus ]usti'S
xVelazqueza genügen zur Entkräftting der patriotischen Befürcht-
ungen, die aus der äussern Gleichmässiglaeit der modernen Bestreb-
ungen ein Aufgeben des Nationalitätsprincips, das Hereinbrechen
charakterlosen Kunstvolapüks ableiteten.
Die Kunstgeschichte kennt keine nationalen Unterschiede in
Stoffen und Technik. Die Stoffe entspringen der allgemeinen
Civilisationsatmosphäre. Die technischen Errungenschaften aber sind
wie alle neuentdeckten Wahrheiten Besitzthum der ganzen Welt.
jedes kunstgeschichtliche Handbuch lehrt, dass seit der Einführung
des Christenthums alle grösseren, mächtigeren Bewegungen auf dem
Gebiete der modernen romanisch-germanischen Welt nicht localisirt
blieben, nicht auf ein Volk sich beschränkten, sondern sich aus-
breitend die ganze civilisirte Welt ergriffen. Seit der altchristlichen
Basilika und dem gothischen Dome waren die Stile nie Producte
einzelner N-tttionen. Und in diesem Sinne ist auch die vneue
Kunstx, die seit 20 Jahren Europa überfluthete, keine Erfindung
der Franzosen, sondern eine freie selbständige Aeusserung des
neuen Zeitgeistes. Nicht in Frankreich, überhaupt nicht hier und
da zerstreut, in einzelnen Ländern trat ihr Geist auf, ein einheit-
licher Blutstrom sendete seine Verzweigungen nach Ost und West,
nach Süd und Nord in der Malerei wie auf andern Gebieten des
Geisteslebens. In allen Literaturen tobten schon längst dieselben Kämpfe.
Was man Zola bei den Parisern nannte, hiess in Russland Dostojewski,
bei den Norwegern Ibsen, bei den Spaniern Echegaray, in Italien
Verga. W'ohl nur, weil die Franzosen in der Kunst das Volk der
Initiative sind, weil sie in hervorragendem Grade das Talent besitzen,
den Edelstein zu schleifen, einem Gedanken, einem Stoff erstmals die
allgemeingültige, verständliche und anziehende Form zu geben, ging
in der Malerei von ihnen die Revolution aus, während sie in der
Literatur den Ruhm mit den Norwegern und Russen theilen.