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ENGLAND
XXXVII.
lesbar, und verdankte zum T heil dieser wohlfeilen Sentimentalität
seine rauschenden Erfolge.
Das gegenständliche Interesse spielt fast überall noch die erste
Rolle, und dies ein wenig rührselig genrehafte. lyrisch weiche oder
allegorisch subtile Element, das durch die englischen Figuren-
bilder geht, würde bei einer andern Nzttion leicht in kraftloser Ver-
schwommenheit enden. In England halt die Portriitnralerei, die heute
wie zu Reynolds' Tagen den grössten Ehrentitel der englischen Malerei
bildet, stets die Verbindung mit der tinmittelbaren Wirklichkeit auf-
recht. Das Portriit ist bekanntlich in der Gegenwart etwas sehr
ernstes gexxrorden: es- verträgt keinen decorativen Luxus, kein Spiel
mit Stoffen, keine Pose mehr, und die englischen Bildnisse haben
diese strenge Sachlichkeit im höchsten Grade. Eigensinnige Hart-
näckigkeit, sanguinische Entschlossenheit und knochige Willenskraft
wird oft als nationale Eigenschaft des Engländers genannt, und etwas
davon scheint auch die englische Porträtmalerei zu verrathen. Das
Selbstgefühl dieser Menschen ist viel zu gross, als dass es nach
dienerhafter Gewohnheit Schmeichelei duldete oder gar verlangte:
alles ist posenlos, einfach und schlicht. Mag es um die wettergeprüfte
Gestalt eines alten Seemannes sich handeln oder um die blendende
Frische der englischen Jugend: in allen Werken liegt eine merk-
würdige Energie und Lebenskraft, selbst in den Bildnissen dieser
Kinder mit der grossen freien Stirn, der feinen Nase, der durch_
dringenden Sicherheit des Blicks. Und da die Portriitmalerei in Eng-
land zu ihrem eigenen Heil wie zum Frommen der ganzen Kunst
nie als gesondertes Fach betrachtet wurde, sind solche Bilder vom
kühlsten Akademiker wie vom frischesten Naturalisten zu verzeichnen.
Der in seinen grösseren Bildern so düsseldorfisch angehauchte Frank
Holl zeigte am Schlusse seines Lebens in seinen Bildnissen des
Kupferstechers Samuel Cousins, des Lord Dulferin, des Mr. Joseph
Chamberlain, des Lord Wolseley, Gladstones, des Duke of ClCVClLIIILi,
des Sir George Trevelyan, des Earl of Spencer eine schlichte Mann-
lichkeit, die seinen früheren Arbeiten durchaus fehlte. Da war eine
Schärfe der Charakteristik, eine Ungezwtingenheit der Pose, die selbst
in England auffiel. Es ist kaum möglich, Leute natürlicher hinzu_
stellen und vom Ausdruck noch mehr jene concentrirte Photographie-
aufmerksamkeit fernzuhalten, die Porträts so leicht bekommen. Selbst
der temperamentlose Leighton, dem sonst das Maasshalten der Antike
in Fleisch und Blut tibergegangen, wird sofort nervös, fast brutal,