XXXVI.
ITALIEN
der unbefangenen Sicherheit des von Jugend auf in vornehmen
Kreisen aufgewachsenen Weltinannes, dem alle Finessen des gesell-
schaftlichen Lebens in Fleisch und Blut übergegangen und der des-
halb er in Fragen des guten Tones noch jederzeit vorbildlich sein kann.
Das Meiste ist interessant, strotzend von Talent, neu und pikant. In
der Fortbildung der Technik der absoluten Technik, der Technik
an sich liegt die kunstgeschichtliche Mission der Franzosen.
Fast Alle sind in gewissem Sinne Chercheurs. Sie mühen sich ab
mit Aufgaben der Farbenwirkung, der Lichtreflexe, der Luftstimm-
ungen, und indem sie alle Kraft einsetzten, diesen schwierigsten Ele-
menten der Erscheinungswelt bis zur äussersten Wirklichkeitsnach-
ahmung beizukommen, haben sie thatsächlich die Malerei nicht
nur des I9. ]ahrhundertsl um einige Stufen auf der Scala der
Natturbeobachtung weiter gebracht. Sie nahmen das von Millet und
Bastien-Lepztge gestellte Problem nach der technischen Seite hin auf,
haben eine Art Generalbass der modernen Malerei hergestellt, deren
technische Instrumente in kaum zu überbietender Weise geschliffen
und verfeinert.
Wo aber ist der Geist der neuen Kunst geblieben? Wie auf
Delacroix ein falsches historisches Genre folgte, ist auf die Ini-
tiateure Courbet, Manet, Degas vielfach ein falsches modernes Genre
gefolgt. Seit Dagnan-Botweret drang wieder ein Element in die
Malerei ein, das Realismus und Süsslichkeit in tmerfreulicher Misch-
ung vereint. Selbst die gemalte Anekdote taucht von allen Seiten
wieder auf. Mit der Schrolfheit. die dem Naturalismus vor zehn
Jahren eigen war. ist auch sein Wesen selbst vielfach verschvtrunden,
von der ganzen. nach Wahrheit strebenden Bewegung der ver_
Hossenen Jahrzehnte im Wesentlichen nur die Atlfhellting der Palette
geblieben. Ueberall begegnet man dem Verstandesreiz einer Ucber-
raschung, einer Verwunderung über die grössere oder geringere
Kühnheit, mit der schwierige Aufgaben der Uebersetzung der Natur
in die Malerei gelöst wurden. Aber Geinüthseindrücke bietet die
neueste französische Malerei gleich der spanischen und italien-
ischen wenig.
Diese Fäden gerlnanischen Kunstbestrebens wurden nur von
den germanischen Nationen weiter gesponnen. Während die Fran-
zosen noch heute wie zu Davids Zeiten Formalisten sind, haben
die Germanen die gewonnene Technik zum Ausdrucksmittel tieferen
Gefühlslebens gemacht. Die höchste Kunst ist wieder zurschlichten