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jene Leidenschaften und Erregungen im eigenen Gemüthe nicht
selbst empfunden hat, die er in Anderen erwecken will. Aus
diesem Grunde ruft der schon so oft citirte Horaz aus: Wenn Ihr
wollt, dass ich weine, so müsst vorher Ihr selber weinen! Es ist
auch wirklich nun einmal nicht möglich, dass eine kalte Hand Den-
jenigen erwärrne, den sie berührt. Dante charakterisirt vortreff-
lich die ganze Wirkungsmacht des Malers in folgenden Versen:
"Wer todt, schien todt, und lebend, wer lebendig,
Nicht Bess'res sah als ich, wer sah das Wahre" 1).
Die angestrebte Vollendung in der Malerei nun, welche so viele
Factoren bedingt, ist eine höchst schwierige, mühevolle Er-
rungenschaft; ist gleichsam nur eine Gnade, welche des Him-
mels Gunst blos sehr wenigen Menschen verliehen hat; denn
es bleibt ausgemacht, dass man auch zum Maler geboren wer-
den ITIIÜS, wie 'zum Poeten, und dass Beide unmittelbare Na-
turgeschöpfe sind. Ebenso darf man auch nicht glauben, dass
es, wie ich bereits einmal bemerkte, nur eine Art der Vollen-
dung in der Malerkunst gebe. Im Gegentheile: da es verschie-
dene Organismen und Sinnesrichtungen der Menschen gibt, so
müssen auch jene Arten verschieden sein; wobei Jeder jener
Art folgt, zu der er sich naturgemäss am meisten hinneigt.
Daher entstanden Malergenies, die in ihrer Art verschieden
xivaren: die Einen liebenswürdig, die Anderen furchtbar; die
Einen
zart,
die
Anderen
anmuthig;
die
Einen
voll
Grösse,
die
Anderen voll Majestät. Genau dasselbe sehen wir auch bei den
Historikern, bei den Dichtern und bei den Rednern sich wie-
derholen.
Doch
davon
später.
Jetzt
will
ich
die
Parallele
handeln,
welche
dieses
Gespräch
veranlasst
hat.
1) Diese beiden Verse, von welchen besonders der zweite so vielfach
commentirt, und so verschiedenartig übersetzt wurde, lauten im Originale:
Morti li morti, e i vivi parean vivi,
Non vide me" di me chi vide il vero.
Obige deutsche Verdollmetschung
nur ein Versuch.
iStv
die
wie
eben auch
Uebers.)
meisten anderen,
(Anm. des