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sehen, dass dadurch Armuth des Talentes oifenbar werden möchte. Und man
bemerkt, dass er seinen edeln "Geschmack immerdar nach den Bedingnissen
und nach der Natur der Stofle, da es andere Falten sind, welche dem rauhen
entsprechen, und andere, Welche dem Ormesin 1). Obgleich ferner das Ge-
wand an manchen Stellen das darunter beßndliche Körperliche andeuten soll,
so darf man doch nicht in das fehlerhafte Extrem verfallen, dass die Stoffe
an das Fleisch angeheftet scheinen. Ich setze hinzu, dass Rafael betreffs der
Korperverliiiltnisse (worin das Ganze der Kunst durchaus beruht) stets ein
solches Maass angewendet hat, dass daran nichts zu wünschen überbleibt.
Denn er fehlt nie durch allzugrosse Schlankheit, auch sind andrerseits seine
Figuren nicht zurergenhaft oder dick oder allzu ileischig; desgleichen haben
sie nichts trockenes oder dürftiges, und man gewahrt, was des Malers höch-
stes Lob ist, an allen die Sorgfalt und Liebe eines Vaters. Alles ist wohl
verstanden, alles wohl überlegt und bewegt sich in seinen Grenzen. Nie aber
malte er Knall und Fall oder aus der Praxis, sondern immer mit grossenw
Studium und hat dabei immer zwei Ziele im Atlge: erstens, die schöne
Manier der antiken Statuen nachzuahmen, zweitens mit der Natur in Wett-
streit zu treten, so zwar, dass er beim Betrachten der wirklichen Dinge, von
deren schönster Erscheinung in seinen Werken die höchste Vollkommenheit
gesammelt zeigte, welche im wirklichen selbst nicht vorkommt. Denn es er-
theilt die Natur einem Körper nicht ihre sämmtlichen Schönheiten; sie aus
vielen zusammenzunehmen ist schwierig; sie dann zu vereinigen, in Einer
Figur, so dass sie nicht unharmonisch scheinen, das ist schier unmöglich.
Wir dürfen nun glauben, dass es bei den Alten Phidias, Apelles und die
übrigen berühmten Meister vollbracht haben, wie uns an mehreren Stellen
Cicero bezeugt. Und wenn Zeuxis zum Entwurfe seiner Helene sich fünf
Mädchen bediente, wer zweifelt dann, dass er viele Theile von ausgezeich-
neter Schönheit hinzufügte, die sich an ihnen nicht gefunden haben?
Aber um auf Rafael zurückzukommen, so sind bei ihm nebst den bis-
her angeführten Dingen Gemälde selten, auf welchen man nicht ein schönes
Bauwerk oder eine perspectivisch gehaltene Partie erblickte, was überaus
erfreulich ist. Was die Ertindting anbelangt, so ist sie immer eine solche,
dass man glauben muss, die Wirklichkeit hätte den Vorgang nicht besser zur
Anschauung gebracht, und auch auf keine andere YVeise. Was das Colorit
betrifft, so wage ich zu behaupten, dass darin Rafael alle die, welche jemals
in Rom und ganz Italien gemalt haben, weit hinter sich liess; davon liefern
sicheren Beweis die vielen von ihm gemalten Porträts und alle Malereien von
seiner Hand. Ware aber Jemand, der in anderm Sinne reden würde, so ist
es einer, den Neid erfüllt, oder er gehört zu Jenen, welche eine gewisse kin-
dische Buntheit der Farben hoher schätzen als Kunst, wie das schon bei
Pabst Sixtus der Fall warz), welcher mehrere Historicn einigen vortreftlichen
Meistern aufgetragen hatte, unter denen einer war, der wenig verstand. Als
nun die Gemalde fertig waren, hielt er die Arbeit des unwissenden Malers
1) Ist ein weicher, geHammter Seidcnzexxg.
z) Vasari, im Leben des Cosimo Roselli.
Quellenschrifren f. Kunstgeschichte etc. II.