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von einander verschieden sind. Darauf entgegne ich, dass in eben dieser Man-
nigfaltigkeit sich dieselbe Uebereinstimmung der Verkürzungen, der Kühn-
heiten und der Muskulatur wiederlinde. Dann scheint es, dass Michel Angelo
mit unbegränztem Ruhme über Rafael und die andern Maler alle triumphire,
indem er seine Vorzüglichkeit in den grössten Schwierigkeiten der Kunst an
den Tag legt. Und wirklich beruhen diese Schwierigkeiten hauptsächlich auf
der Darstellung des Nackten und" in der Bildung des Verkürzten an den
Figuren. Aber es scheint mir, dass man dagegen antworten kann, dass der
Mensch nach seiner gewöhnlichen Art, wenn er sich naturgemäss verhält,
nicht immer solche Stellungen einnimmt, in Folge welcher der Maler, der
ihn abbildet, zu Verkürzungen genöthigt wäre, so dass er also nicht fort-
während diese Skurze in der Malerei emsig zu suchen braucht, und insgleichen
auch das Nackte nur selten. Wenn man daher die schwierigen (und, wie
diese es sind, seltsam anzuschauenden) Dinge nur bisweilen malt, so wirken
sie um so wunderbarer und das Vergnügen daran ist um so grösser. Und
dann gelingen nach einem Urtheil die Skurze viel lieblicher, wenn der Maler,
gezwungen durch die Beschränktheit des Raumes oder durch die Fülle von
Figuren, welche seiner Erlindung dienen, viele Dinge einem kleinen Raume
anzupassen versteht, oder, wenn es ihm in ganz schlichter Weise in Folge
der dargestellten Bewegungen sich ergibt, einen Arm, ein Bein, Hand oder
Fuss oder den Kopf oder sonst ein Glied verkürzt zu zeichnen, wobei er
mit Geschmack und Bescheidenheit, zuweilen wohl auch um seine Kunst zu
erweisen, vorgeht. Ueberdies wird Niemand im Stande sein, mich auf ver-
nünftige Weise zu dem Glauben zu bringen, dass ohne Aufdecken jener
Theile, welche die Natur zu verheimlichen andeutet, das höchste Kunstwerk
in der Malerei nicht zu erreichen sei. Und darin eben ist Michel Angelo doch
zu stark und ausser allem gestattetem Maasse, um nicht zu sagen unehrbar.
Von der Erfindung spreche ich nichts, weil ein allgemeines Urtheil darüber
ist, dass er in diesem Theil wenig Erfolg gehabt hatte.
Wenn wir dagegen uns die Schöpfungen Rafaels sorgfältig besehen
wollen, so werden wir gewahr, dass er seine Figuren, wie sie eben zum
grössern Theile graziös und lieblich sind, auch dann, wenn der Gegenstand
schon mehr erheischte, doch nicht schrecklich und wild gemacht hat. Er
unterliess auch nicht, Nackte und Verkürzungen darzustellen, nach Ort und
Gelegenheit, wobei er immerdar, nicht allein bei heiligen, sondern auch in
Profan-Werken, auf das Ehrbare Rücksicht nahm. Und ebenso hat er nach
Mannigfaltigkeit gestrebt, indem er Greise, Jünglinge, Kinder, bejahrte und
junge Frauen in verschiedenen Stellungen, Eigenheiten, Körperbildungen und
Formen in solcher Menge gemalt hat, dass die Natur bei den Dingen der
Wirklichkeit sich keiner reicheren Abwechslung zu bedienen scheint. Des-
gleichen wird man je nach Geschlecht, Alter und Lebensgewohnheit an den
Muskeln, Gliedern, Gesichtern und Bewegungen Verschiedenheit gewahr, ab-
gesehen davon, dass der Mannigfaltigkeit der Nationen, Zeiten und Gebräuche
zufolge er stets verschiedene Kleider und Trachten desgleichen erfand, an
welchen Gewändern es zu verwundern ist, dass an ihnen keinerlei Verwir-
rung und Verwicklung der Falten, aber auch nicht solche Trockenheit zu