Anzeichen der Furcht, die sie in ihrem Herzen über das tinselige Ende des
Jünglings vorausempfindet, dass man glauben muss, so müsse er gewesen
sein, wenn jemals Venus denselben zeigte. Und wenn die Venus, die dem
Meere entsteigt, welche von Apelles gemalt und von den alten Dichtern und
Schriftstellern mit soviel Ruhm erhoben wurde, nur die Hälfte der Schön-
heit besessen hat, welche man an dieser wahrnimmt, so war sie solchen
Lobes nicht unwürdig. Ich schwöre Euch, mein Herr, dass es keinen Menschen
von so scharfen Blicken und Geschmacke gibt, der bei ihrem Anblicke sie
nicht für lebendig hielte; keinen, welcher von den Jahren so kalt geworden
oder so harter Natur wäre, dass er nicht alles Blut in den Adern erwärmen
und wallen fühlte. Wenn eine Statue von Marmor so mächtige Wirkung
haben konnte, dass sie mit den Reizungen ihrer Schönheit in das Mark eines
Jünglings eindringen konnte, in Folge dessen er sie verunreinigte, wie
müsste der Einiiuss von dieser sein, welche von Fleisch, die Schönheit selbst
und zu athmen scheint 1)?
Man sieht ferner auf demselben Gemälde die Skizze von einer Land-
schaft von der Art, dass die wirkliche nicht von solcher Wahrheit ist.
Daselbst ist auf der Spitze eines Hügels in nicht grosser Entfernung ein ganz
junger Cupido, im Schatten schlafend, der ihm rückwärts auf den Kopf fällt.
Rings um sich hat er Schimmer und Sonnenglanz von wunderbarer Schön-
heit, welche die ganze Landschaft erleuchten und erhellen.
Aber all" das, was ich mit grosser Mühe gesagt habe, ist nur eine
geringe Nachricht im Verhältniss zu der Göttlichkeit dieser Malerei (denn
ein anderes Wort ist nicht zulässig). Hier soll es genug sein, dass es von
Tiziarfs Hand und für den König von England ist. Ihr, mein Herr, möget
mich zuweilen der liebenswürdigen Früchte Eures edelsten Ingeniunfs werth
halten, welches Ihr, im Vereine mit Euren wissenschaftlichen Kenntnissen,
zu einer Zier ausgesuchter und lobwürdiger Tugend verbindet. Möget Ihr
wohl sein.
LODOVICO
DOLCE
AN
MESSER
GASPERO
BALLINI.
BotLm-i
166 aus den Lettere di diversi eccellentissimi Uomini
apresso Gabriel Giolito 155g. 8". a carte 472,)
Venezia,
Zu jeder Zeit, wenn es sich unter uns begibt, dass wir zur Unterhal-
tung oder sonstigem angenehmen Zeitvertreib von den ausgezeichneten Malern
1) Es wäre ungerecht, wenn man den Autor allzu rigoristisch über diesen Passus Vor-
wiirfe machen wollte. Derselbe kommt nicht auf seine Rechnung, sondern ist eine antiqua.
risch-literarische Reminiscenz, welche damalsjn Folge der classischen Studien so allgemein
zur Beurtheilnng von Kunstwerken benützt wurde, als die Anecdoten von Apelles und
Zeuxis. Sie beruht auf einer Anecdote über eine Venus des Praxiteles. erscheint bereits im
Poliphihs Hypnerotnmachia (2. Hälfte des I5. Jh.) und ist selbst in Schriften von Ungelehrten
übergegangen. wie das Volksbnch vom Zauberer Virgilins u. a.