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Bedingungen an seinen Hof zu berufen, damit Rom, neben
den Bildern des Rafael und des Michel Angelo, sich rühmen
könne auch etwas von der göttlichen Hand des Tizians zu
haben. Der grosse Navagero aber, der ein ebenso bedeutender
Kunstkenner war, als er in der Poesie, besonders in der latei-
nischen excellirte, und der wohl voraussah, dass, wenn Tizian
ginge, Venedig fast seines werthvollsten Schmuckes beraubt
werden würde, brachte es dahin, dass derselbe diese Einladung
nicht annahm. Sein Ruhm drang hierauf bis nach Frank-
reich, von wo aus König Franz I. U sich beeilte, ihm die ver-
lockendsten Anträge, damit er zu ihm komme, machen zu lassen.
Aber Tizian war nie zu bewegen, Venedig, wo er als kleiner
Knabe einzog, und das er sich als zweite Heimath erkoren
hatte, zu verlassen. Von den Werbungen Karl V. habe ich
Euch schon erzählt; so dass es wohl kaum je einen Maler
gegeben haben dürfte, der von Fürsten mehr als Tizian ge-
achtet worden wäre. Ihr seht, welche Macht einem hohen Ver-
dienste innewohnt.
Fab. Sage _man, was man wolle. Das Verdienst kann
nicht verborgen bleiben, und jeder tüchtige Mensch, der klug
vorgeht, ist der Schmied seines Glückes.
Aret. Allerdings, lieber Fabrini, kann man behaupten,
dass noch Niemand der Malerei so viel Werth beilegte, wie
Tizian, der das eigene Verdienst wohl kennencl, seine Arbeiten
immer sehr hoch im Preise hielt, und seine Zeit nur auf Bil-
der für grosse Herren und für solche Leute verwendete, welche
im Stande wären, dieselben auch glänzend zu bezahlen. Es
1) Ueber die Beziehungen Tizian's zu Franz I. siehe Vasari XIII.
p. 27. n. 3. Vaisari erzählt, Tizian habe das Porträt des Königs gemalt, als
dieser sich anschickte, Italien zu verlassen. Franz l. war zweimal in Italien,
einmal 1515, wo er 21 Jahre alt, eine Unterredung mit Leo X. in Bologna
hatte; ein zweitesrnal 1525. Das Porträt Franz I. im Louvre scheint um
1530 gemalt zu sein. Von einer Berufung 'I'izian's nach Frankreich ist im
Vasari keine Erwähnung gemacht.