Irrwege. Jedenfalls grenzt es an das Wunderbare, dass Tizian,
ohne noch die Antiken zu Rom, welche allen grossen Malern
zum Leitstern dienten, gesehen zu haben, blos durch den
kleinen Funken, den er in den Werken des Giorgione entdeckt
hatte, das Geheimniss der Kunstvollendung erkannte und be-
herrschte.
Fab. Ein altes Sprichwort der Griechen besagt, dass es
nicht Allen gegeben ist, nach Korinth zu gelangen, und Ihr
selbst habt bemerkt, dass es nur Weniger Sache gut zu malen.
Aret. Tizian hatte indessen einen so hohen Grad des
Ruhmes erstiegen, dass es in Venedig kaum einen Edelmann
gab, der nicht darnach trachtete, ein Porträt, oder irgend
etwas Anderes, von seiner Hand, zu besitzen. Man trug ihm
auch Verschiedene Werke für mehrere Kirchen auf. S0 liessen
ihn die hochedlen Mitglieder des Hauses Pesaro 1) ein Oelbild
für denjenigen Altar in der schon genannten Kirche „dei
Frari" anfertigen, bei welchem sich ein Weihwasserkessel mit
einer kleinen Marmorügur des heiligen Johannes Baptist von
Sansovino befindet. Tizian stellte in diesem Bilde die heilige
Jungfrau, sitzend mit dem Jesuskinde dar, welch' Letzteres ein
Bein
anmuthig
in
die
Höhe
hebt,
wobei
CS
den
andern
Fuss
auf eine der Hände der heiligen Jungfrawstützt. Letzterer ge-
genüber befindet sich ein heiliger Petrus, ehrwürdigen Aus-
sehens, der sich zu ihr wendet und die eine Hand auf ein
offenes
Buch
legt,
das
der
andern
hält,
während
die
Schlüssel
Zll
seinen Füssen
sich befmden.
Es
sind
da
noch:
ein
heiliger
Franciscus,
ein
bewaffneter
Mann ,
der
ein
Banner
i) Die Madonna der Familie Pesaro in der Kirche de' Frari ist
noch gegenwärtig daselbst. Sie ist gemalt _1519 für den Bischof Jacopo Pesaro.
Nach einem Documente, das sich in dem Familienarchive der Pesards be-
findet, erhielt Tizian 96 Dukaten für die Malerei, 6 für die Leinwand. Dass
auf dem Gemälde, ausser der Madonna und einigen Heiligen, auch einige
Porträtfigurexx der Familie sich befinden, ist bekannt. S. Vasari XIII. p. 26. n. x.