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Es ist daher nicht verwunderlich oder gar ehren-
rührig, wenn der größte Teil des Publikums unfähig
ist, die Wahrheit der Natur zu beurteilen, auch wenn
sie ihnen vor Augen steht. Aber es ist seltsam, dass
sie sich von ihrer Unfähigkeit nicht überzeugen
lassen. Fragt einen Kunstkenner, der ganz Europa
abgelaufen hat, wie das Blatt der Eiche geformt sei;
kaum einer wird es wissen, und doch jede Landschaft red-
selig kritisieren, die er in den Galerien von Dresden bis
Madrid gesehen hat. Er wird vorgeben zu wissen,
ob sie naturwahr sei oder nicht. Wenn man einen
enthusiastischen Schwätzer in der ,Sistina' fragt, wie
viel Rippen er hat, so erhält man keine Antwort;
aber es wäre seltsam, wenn er aus der Tür ginge, i
ohne einen belehrt zu haben, dass diese und jene
Gestalt schlecht gezeichnet sei. l
Dies würde genügen, das Publikum seiner Urteils-
losigkeit zu überführen, wenn die Annahme nicht so
verbreitet wäre, dass sie herausfühlen könnten, wenn
auch nicht sagen warum? ob eine Darstellung
wahr sei oder nicht. Bis zu einem gewissen Grade
ist das richtig. Jemand mag das Portrait seines
Freundes erkennen, obwohl er nicht angeben kann,
wie seine Nase geformt ist und wie hoch seine Stirn.
Denn Natur und Nachahmung ist leicht zu unter-
scheiden, ebenso Ähnlichkeit und Unähnlichkeit. Und
wir erkennen die Dinge meist an ihren unwesent-
liebsten Attributen. Wo diese in der Nachahmung
fehlen, wenngleich tausend andere, höhere, wertvollere