Volltext: Moderne Maler (Bd. 11/12 = Bd. 1/2)

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Es ist daher nicht verwunderlich oder gar ehren- 
rührig, wenn der größte Teil des Publikums unfähig 
ist, die Wahrheit der Natur zu beurteilen, auch wenn 
sie ihnen vor Augen steht. Aber es ist seltsam, dass 
sie sich von ihrer Unfähigkeit nicht überzeugen 
lassen. Fragt einen Kunstkenner, der ganz Europa 
abgelaufen hat, wie das Blatt der Eiche geformt sei; 
kaum einer wird es wissen, und doch jede Landschaft red- 
selig kritisieren, die er in den Galerien von Dresden bis 
Madrid gesehen hat. Er wird vorgeben zu wissen, 
ob sie naturwahr sei oder nicht. Wenn man einen 
enthusiastischen Schwätzer in der ,Sistina' fragt, wie 
viel Rippen er hat, so erhält man keine Antwort; 
aber es wäre seltsam, wenn er aus der Tür ginge, i 
ohne einen belehrt zu haben, dass diese und jene 
Gestalt schlecht gezeichnet sei. l 
Dies würde genügen, das Publikum seiner Urteils-  
losigkeit zu überführen, wenn die Annahme nicht so 
verbreitet wäre, dass sie herausfühlen könnten, wenn 
auch nicht sagen warum?  ob eine Darstellung 
wahr sei oder nicht. Bis zu einem gewissen Grade 
ist das richtig. Jemand mag das Portrait seines 
Freundes erkennen, obwohl er nicht angeben kann, 
wie seine Nase geformt ist und wie hoch seine Stirn. 
Denn Natur und Nachahmung ist leicht zu unter- 
scheiden, ebenso Ähnlichkeit und Unähnlichkeit. Und 
wir erkennen die Dinge meist an ihren unwesent- 
liebsten Attributen. Wo diese in der Nachahmung 
fehlen, wenngleich tausend andere, höhere, wertvollere
	        
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