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Obwohl Wahrheitserkenntnis Sache der Vernunft ist
und allein auf physischer Wahrnehmung und abstraktem
Denken beruht, unabhängig von unserer moralischen
Natur, werden doch die Instrumente, mit denen wir
wahrnehmen und urteilen, so viel blanker geschliffen,
so viel leichter und wirksamer gehandhabt, wenn die
Energie und Leidenschaft unserer moralischen Natur
sie in Schwingung versetzt. Die Wahrnehmung wird
durch Liebe so geschärft, das Urteil durch Ehrfurcht
so gemäßigt, dass, wer das moralische Empfinden in
sich ertötet hat, im Erfassen der Wahrheit tatsächlich
stumpfsinnig ist; tausende der höchsten und göttlich-
sten Wahrheiten der Natur bleiben ihm verborgen,
so unablässig und unermüdlich er sie auch mit dem
Verstande suchen mag.
Der Feinfühligkeit reihen sich Reflektion und Ge-
dächtnis an, notwendig, um die wahrgenommenen
Tatsachen zu behalten und das, was ihnen gleicht,
zu erkennen. Wer einen Eindruck nach dem anderen
aufnimmt, selbst unter lebhaftem Entzücken, ohne
ihn in sich zu verarbeiten und zu untersuchen wo-
her er stamme, bleibt unwissend über seine Ursachen
oder schreibt sie unrichtigen Tatsachen zu. Und die
größte Feinfühligkeit und stärkste Einbildungskraft
führt am wahrscheinlichsten in Irrtum. Sie lässt den
Menschen sehen, was er zu sehen erwartet, sie über-
lässt es ihm, lieber mit seinem Herzen zu bewundern
und zu urteilen, als seine Augen aufzumachen.
Wie viele haben sich durch alles, was über die Heiter-