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sie für das zweite, das eigentliche und einzig wichtige
Ziel der Kunst, die notwendigen Voraussetzungen bil-
den. Obwohl wir der Gedanken und Gefühle des
Künstlers so sehr bedürfen wie der Wahrheit, müssen
es Gedanken sein, die der Wahrheitserkenntnis ent-
stammen, und Gefühle, die ihm bei Betrachtung der
Wahrheit aufgestiegen sind. Sein Geist darf nicht
einem schlecht geblasenen Glase gleichen, durch
welches alles verzerrt hindurchscheint, sondern einem
Glase seltener und süßer Färbung, das dem, was hin-
durchschimmert, neue Töne verleiht. Einem Glase
von auserlesener Stärke und Klarheit, das uns mehr
erkennen lässt, als wir allein sehen würden, und uns
der Natur näher bringt.
Nichts kann für den Mangel an Wahrheit entschädi-
gen; nicht die glänzendste Einbildungskraft, nicht die
beweglichste Fantasie, nicht das feinste Fühlen, so-
fern es rein und falsch zugleich sein könnte; nicht
die erhabenste Konzeption, nicht die eindringendste
Verstandesauffassung. Denn Falschheit ist erniedri-
gend und empörend an sich, und die Natur so unend-
lich über alles erhaben, was Menschengeist ersinnen
kann, dass wer sich von ihr entfernt, unter sie sinkt.
Eine ornamentale Falschheit kann es garnicht geben.
Alle Falschheit ist Befleckung und Sünde, Ungerech-
tigkeit und Betrug.
Ohne Wahrhaftigkeit kann kein Künstler anmutig,
originell oder reich an Fantasie sein. Verlangen nach
Schönheit entfernt uns nicht von der Wahrheit, steigert