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eine weiche, gleichmäßige Fläche. Oder in Wachs-
figuren, wo der erste Sinneseindruek beständig durch
die Erfahrung widerlegt wird. Aber dem Marmor
gegenüber hält diese Definition nicht stand. Eine
Marmorstatue sieht nicht aus wie etwas, das sie nicht
ist. Sie sieht aus wie Marmor und hat die Gestalt
eines Menschen; aber sie ist von Marmor und ist
die Gestalt eines Menschen. Sie sieht nicht wie ein
Mensch aus, der sie nicht ist, sondern wie die Gestalt
eines Menschen, die sie ist. Gestalt ist Gestalt,
bona fide und tatsächlich einerlei, ob aus Marmor,
oder Fleisch und Bein; und zwar ist sie nicht
die Nachahmung oder Ähnlichkeit einer Gestalt,
sondern eine wirkliche Gestalt.
Der Kohlenumriss eines Baumzweiges auf dem Papier
ist nicht Nachahmung. Er sieht aus wie Papier und
Kohle, nicht wie Holz, und was er der Vernunft
suggeriert, ist, genau gesagt, nicht der Form eines
Zweiges gleich, sondern ist die Form eines Zweiges.
Hieran lassen sich die Grenzen der Nachahmung er-
kennen. Sie wird nur da zum Kunstknilf, wo sie
etwas absichtlich anders erscheinen lässt als es ist.
Die Nachahmung bereitet daher den Genuss der
Überraschung, in dem gemeinen, armseligen Sinn der
Taschenspielerei: die verächtlichsten Genüsse und
Vorstellungen, die die Kunst gewährt. Denn ihre
Freude beruht auf der Vorstellung einer Täuschung,
die die Vermmft ablehnt. Jedes hohe Gefühl ist
ausgeschlossen und jeder edle Gedanke physisch un-