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Tizians Fleischton kann jeder würdigen. Aber der
Künstler allein, der trotz endloser Mühsal nicht an-
nähernd die leiseste Möglichkeit erreicht, einen ein-
zigen dieser Töne nachzubilden, dem Künstler allein
ist das Außerordentliche daran olfenbar.
Das Können, das
Malers entzückt,
der Kreideskizze des großen
nicht wie das des Schreib-
uns in
beruht
lehrers
auf manueller Geschicklichkeit.
In mühe-
loser,
kühner Manier offenbart
Unfehlbarkeit
sich
und
Sicherheit der
liehen Genuss.
Einsicht, und das
Beim Können in
bildet den
der Kunst
eigent-
handelt
es sich immer um den Eindruck, dass alle Schwierig-
keiten völlig und spielend überwunden sind . . .
Ferner müssen wir das Können in Aktion sehen.
Der Sieg muss erst errungen werden und nicht schon
gewonnen sein . . . . [Glaubt man nicht einen Be-
wunderer Rodins zu hören, wenn er fortfährtz] Die
halb vollendeten Glieder der ,Dämmerung' und des
,Tages' in der mediceischen Kapelle gewähren uns
die Empfindung eines höheren Könnens als selbst
die göttliche Trunkenheit des Bacchus von Michel-
angelo. Ebenso das erloschene Leben des Parthenon-
frieses als die polierten Glieder des Apollo; auch
die Federzeichnung des Kopfes der heiligen Katharina
von Rafael mehr als sein ausgeführtes Gemälde. Und
doch ist es verkehrt, das Gefühl (sensation) des Könnens
seiner geistigen Wahrnehmung vorzuziehen. Tatsäch-
lich liegt ein größeres Können in der Ausführung als
im Entwurf. Wenn auch den Sinnen nicht so wahr-