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bewahrt hat, zu vergleichen mit ihren wirklich bar-
barischen Substituten des 17. Jahrhunderts. Ebenso
die angeblich vollendeten Skulpturen des Mailänder
Domes mit den Statuen der Portale in Chartres.
Man halte nur fest, dass ich nicht Roheit und Un-
wissenheit in der Kunst, sondern feierliche, ver-
geistigte Abstraktion vertrete; dass alle Ornamentik,
die im ganzen nur die Wirkung ausgehauener Steine
hervorbringt, wie an Kapitälen und anderen fein aus-
geführten Stücken, die Formen sorgfältig nachahmen-
der Natur sein sollten. In dieser Hinsicht sind die
Kapitäle der Markuskirche und des Dogenpalastes in
Venedig ein Beispiel für alle Architekten der ganzen
Welt, in ihrer grenzenlosen Erlindungskraft, unbeirr-
baren Eleganz und sorgfältigen Vollendung. Es ist
mehr Geist in der Abrundung eines Winkels dieser
Kirche, als der ganze Bau einer modernen Kathedrale
verlangt.
Endlich betrachten wir die Fantasie der Anschauung
in Beziehung zur Übertreibung in der Kunst.
Eine Kolossalstatue ist nicht notwendig eine Über-
treibung dessen, was sie darstellt, so wenig wie ein
Miniaturgemälde eine Verkleinerung. Sie braucht
nicht einen Riesen darzustellen, einen Menschen in
großem Maßstabe . . . Aber alle Statuen, die größer
sind als die Elgin-Marbles oder Michelangelos Nacht
und Morgen, wirken auf unser Auge wie Riesen und
sind uns deshalb unangenehm. Der Grad Übertrei-
bung, den Michelangelo anwendet, ist wertvoll, weil