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lichen, zufälligen Züge ablehnt. Ich weiß kein besseres
Beispiel dafür als Tizians Blumen in dem vorerwähnten
Bilde. Um die Blume kenntlich zu machen, verleiht
er der Rose ihre Staubfäden und gibt die Rundung
und Besonderheit ihrer Blätter mit auserlesener Treue
wieder. Aber er deutet weder die Art des Mooses
an, noch ob es feucht, betaut oder trocken sei. Er
gibt lediglich die einfache Form der Blume und ver-
einfacht sogar ihre Farbe. Alle Sorten der Aquileja
haben einen unbestimmt grauen Ton und sind nie
von so intensiver Bläue wie Tizians Blumen. Aber
er strebt gar nicht nach der individuellen Farbe be-
sonderer Blüten; er wählt ihren Typus, und den gibt
er in äußerster Reinheit und Einfachheit wieder, deren
die Farbe fähig ist. . . . . .
Jedes Kraut, jede Wiesenblume haben eine spezielle,
besondere und vollkommene Schönheit; ihren besonde-
ren Ort, Ausdruck und Funktion. Das ist die höchste
Kunst, die diesen besonderen Charakter erfasst, ent-
wickelt, erläutert und ihm die Stellung in der Land-
schaft anweist, auf welcher die Gesamtimpression des
Bildes beruht. jede Art von Fels, Erde, Wolke muss
mit gleichem Fleiß studiert und gemalt werden. Was
von den Pflanzen gilt, gilt auch vom Gestein. Es
ist eben so unmöglich, Granit zu generalisieren, wie
einen Menschen und eine Kuh. Ein Tier muss ent-
weder ein oder das andere Tier sein; es kann kein
allgemeines Tier sein, oder es ist kein Tier. Ein
Fels muss entweder dieser oder jener Fels sein; er