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Anlage genossen werden. Ein Werk hoher Konzep-
tion wird sich oberflächlicher Betrachtung nie ganz
erschließen; besonders, wenn die Fantasie sich be-
fleißigt, verborgene und weitabliegende Beziehungen
durch geringfügige Einzelheiten auszudrücken.
Tintorettos Fantasie ist z. B. von solcher Intensität,
dass er dem gleichgültigsten Dinge eine fast unbe-
grenzte Suggestivität verleiht; jedem geringsten Steine
oder Schatten gibt er eine orakelhafte Bedeutung.
Von Giottos reiner bis zu Salvator Rosas unerträg-
lich brutaler Gefühlsweise ist jede Auffassung in der
Darstellung der Taufe Christi vertreten. Aber keine
ist so eindrucksvoll wie Tintorettos. Giottos Dar-
stellung in der Academia zu Florenz ist eine der
rührendsten, besonders in dem ehrerbietigen Tun der
dienenden Engel. In Verrocchios Taufe ist der von
Leonardo gemalte Engel ganz wundervoll. Aber der
Vorgang tritt einem in seiner tieferen Bedeutung
nicht nahe. Die herabschwebende Taube lässt uns
kalt; ihre beständige Symbolik hat uns abgestumpft;
sie wirkt als Buchstabe, aber nicht als aktuelle Ge-
genwart des Geistes. Fast alle frommen Maler las-
sen sich die Wirkung der Landschaft entgehen. Ihr
Himmel, ihre Berge, ihr Laub mögen bewundernswert
sein, aber mit Wasser und Felsen im Vordergrund
wissen sie nichts anzufangen. Die sechseckigen Ba-
saltknäufe ihrer Flussufer lassen den Empfänglichsten
kalt. Besonders in Angelicos Leben Christi. An
diesem Gegenstande treten die Schwächen auch der