235
ergreift, etwas Erhabenes liegen. Das Leid von
Guercinos Hagar in der Brera-Galerie in Mailand ist
verächtlich, abstoßend und lächerlich. Das ist nicht
der Schmerz der beleidigten Egypterin, die in die
Wüste gejagt wird und das Geschick eines Volkes
unter dem Herzen trägt; vielmehr ein Mädchen für
alles, die vor die Tür gejagt wird, weil sie Tee
und Zucker gestohlen hat. Gewöhnliche Maler ver-
gessen, dass die Leidenschaft nichts absolutes ist
und nicht an sich groß oder stark, sondern nur im
Verhältnis zu der Stärke oder Schwäche der Seele,
an der sie Teil hat; und dass sie durch über-
triebene Darstellung ihrer äußeren Merkmale nicht
die Leidenschaft erheben, sondern den Helden er-
niedrigen. Sie halten die Leidenschaft ihrer Natur
nach zu sehr für gleichartig, und vergessen, dass
Achilles Liebe etwas ganz anderes als Paris Liebe
und Alcestis als Laodamias Liebe ist. Die Betrach-
tung der Leidenschaft an sich hat keinen Zweck.
Sie hat Wert nur sofern sie in der Menschenseele
die Brunnen der großen Tiefe aufbrechen lässt,
oder ihre Macht und Majestät entfaltet. So gewahrt
man die Zeitlosigkeit der Berge am nachhaltigsten
unter dahin schwindenden Wolkenzügen. Alle Lei-
denschaft aber, die überwältigende Macht gewinnt,
und in der die Kreatur nicht überwindend, sondern
überwunden erscheint, ist für große Kunst unge-
eignet, da sie den idealen Charakter der Ziige zer-
stört.