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gemein werden. Bei Giorgione aber, dessen Ver-
stand von Fantasie durchglüht, ist das Bewusstsein
der Nacktheit völlig aufgehoben. Er hat weder Wunsch
noch Bedürfnis, etwas verbergen zu wollen, denn
seine nackten Gestalten wandeln unter den Bäumen
wie Feuersäulen und liegen auf dem Rasen wie
Sonnengarben. Die religiösen Maler versöhnten mit
der Nacktheit einerseits durch ihre herben Formen und
strengen Linien, wie andererseits durch ihre Farbe,
aber ihre bekleideten Gestalten verdienen im allge-
meinen doch den Vorzug. Sie bilden aber mit
Michelangeld und den meisten Venetianern eine
Gruppe, deren Anblick und Ziele so rein sind, dass
zwischen ihnen und allen andern Schulen eine Kluft
gähnt.
[Der fromme Purist betrachtet den Menschen losge-
löst von seinen Beziehungen zur Welt. Er tilgt alle
Spuren irdischer Leidenschaft aus den Zügen, durch-
leuchtet sie mit heiliger Liebe und Hoffnung, und
prägt ihnen die Heiterkeit himmlischen Friedens auf.
Unter tiefen Falten schwerer Gewänder verbirgt er
die Körperformen. Er malt lieber Gestalten, abge-
zehrt von Fasten und Kasteien, bleich von Tortur, als
durch Lebensbetätigung kräftig entwickelte Menschen,
denen das Blut gesunder Aufwallung in die Wangen
steigt. Der große Naturalist aber erfasst den Men-
schen in seiner Totalität, in dem was sterblich und
unsterblich an ihm ist. Er ist im stande, den vollen
Umfang
seiner
Leidenschaften
ZU
ergründen
und