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heut übliche Porträtkunst, die in jedem Beiwerk der
Eitelkeit schmeichelt, indem sie auf das hinweist, was
die Person besitzt oder geleistet zu haben glaubt.
Solcher Praxis ist Holbeins hohe Herbigkeit, Rafaels,
Tizians, Giorgiones und Tintorettos ausdrucksvoll be-
scheidene Einfachheit völlig entgegengesetzt. Bei ihnen
macht weder die Rüstung den Krieger, noch das
Seidenkleid die Dame. In Venedig sehen wir die
siegreichen Dogen nicht im Schlachtengetümmel, im
Triumph der Heimkehr, oder vor Thron und Baldachin
dargestellt, sondern knieend, ohne ihre Kronen und
Gott Dank für seine Hilfe weihend; oder aber als
Priester, die für die bedrängte Nation Fürsprache
einlegen.
Das andere Moment, das die Gestalt zerstört, ist das
Zutagetreten ihres sinnlichen Charakters. Obwohl es
für die moderne Kunst nicht weniger verhängnisvoll
geworden ist, ist seine Wirkung doch subtiler und da-
her schwieriger nachweisbar. Es ist nicht möglich, die
verschwindenden Nuancen festzustellen, durch welche
die rechte Auffassung der menschlichen Gestalt von
der geschieden ist, die lüstern und faul wirkt. Das,
was der Maler liebt und sucht, liegt seiner Dar-
stellung zu Grunde. Ist er unreinen und schwäch-
lichen Sinnes, wird alles, was er berührt, besudelt.
So legt Bandinelli einen niedrigen Fleischeshauch
über seinen marmornen Christus, wie so viele mo-
derne
Maler.
Ist
der
Künstler
aber
kraftvollen
und
reinen
Geistes,
wie
Michelangelo,
dann
mag
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alle