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Beziehungen von gut und böse, die darin um die
Herrschaft gerungen haben, richtig ermisst. Sonst
ist die Kunst seicht und verächtlich. Verallgemei-
nerung oder Zusammenschweißen individueller Cha-
rakteristiken führt nur dazu, den Charakter zu ver-
wässern, und wirkt durch Mangel an Wahrheit peinlich.
In der Gewohnheit der großen alten Maler, Porträts
in ihre höchsten Werke einzuführen, sehe ich nicht
nur keinen Irrtum, sondern die Quelle und Wurzel
ihrer Überlegenheit in allen Dingen. Denn sie waren
zu groß und zu demütig, um nicht in jedem Antlitz
um sie her das zu sehen, was über ihnen stand,
und was ihre Fantasie allein weder erreichen noch
verdrängen konnte. Daher haben sie die Gewohnheit
beständig zu porträtieren, sowohl zu Studienzwecken
als zu Zwecken der Analyse, wie Leonardo. Künst-
ler wie Rafael, Tizian, Tintoretto, studieren und
malen fleißig Porträts der Männer ihrer Zeit. Por-
träts, um der Vornehmheit persönlicher Charaktere
willen, selbst in ihren höchsten Schöpfungen der Fan-
tasie, wie Ghirlandajo immer, ebenso Masaccio, und
alle Männer höchster, reinster, idealer Absichten,
Giotto z. B. in seinen Charakteristiken der Mönchs-
köpfe. Diese Praxis hatte allerdings eine gefährliche
Tendenz für Menschen niedriger Gesinnung, die Mo-
delle als solche benutzten und sie hinstellten, wo
sie nicht hingehörten; oder bei solchen, die ihre Mo-
delle nicht mit liebevollem eindringendem Verständnis
betrachteten, sondern nur ihr Äußeres oder ihr Böses