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sie muss ungerecht sein; noch Furcht, denn sie über-
treibt alle Dinge; noch List und Betrug, denn der
Unwahrhaftigkeit, der wir uns erst bewusst schul-
dig gemacht, verfallen wir bald unbewusst. Ge-
recht urteilt allein Selbstbeherrschung, wandelloses
Vertrauen, tiefblickende Liebe und ein Glaube, der,
da er höher ist als alle Vernunft, am geeignetsten ist,
von seinem hohen Sitz herab ihre Zügel zu lenken.
Wer volle Entwicklung des intellektuellen Typus für
möglich hält, ohne nach tieferen Quellen der Schön-
heit auszuschauen, verfällt damit gröblichem Irrtum.
Obwohl moralisches Empfinden die Verstandeskräfte
erhebt, nimmt es in dieser Verbindung leicht zu brei-
ten Raum ein, und überschattet alles andere. Damit
ist die gleichzeitige Wirkung beider gewissermaßen
ausgeschlossen. Gelegentlich tritt auch die mora-
lische Kraft in voll entwickelte Aktion, ohne den
Verstand zu steigern, obwohl es nie ein ungesunder
Zustand ist, den Wordsworth in die Worte fasst:
„In der hohen Stunde
Des Nahens des lebendigen
Gottes
Hörte
das
Denken
allia
Blicken wir aber tiefer, dann sehen wir, dass nicht
der Verstand selbst, sondern das angestrengte Rin-
gen einer ungenügenden Verstandeskraft, mit hoher
moralischer Emotion unvereinbar ist. Obwohl wir
nicht zugleich tief empfinden und scharf urteilen,
können wir doch nur da voll verstehn, wo wir tief