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mäßigen Zweigen in die Höhe und Breite entwickelt
habe. Die wilde Eiche mag knorrig, zerzaust und
vom Sturm zerwühlt und felsverstrickt sein. Hat sie
in allem Unglück die Würde der Eiche gewahrt, dann
ist sie eine ideale Eiche. Ich halte sie sogar für
idealer als die wohlgepflegte Eiche, denn ihre An-
strengung und ihr Ringen haben ihre Eigenart, als
da ist tragende Kraft, Geduld im Ausharren, Scharf-
sinn im Erlangen ihrer Bedürfnisse, voller entwickelt
und ihr eigentliches Wesen bestimmter entfaltet, als
unter glücklicheren Bedingungen möglich gewesen
ware.
Das ist der Grund, dass erhöhte oder scheinbar ver-
besserte Lebensbedingungen von Pflanze und Tier, die
durch menschliche Einmischung erzielt werden, nicht
ihr wahres und künstlerisches Ideal verwirklichen. Es
handle sich denn um die Veredelung von Früchten,
die dem Menschen zur Nahrung dienen. Wohl ent-
wickeln sich Pflanzen, die auf unfruchtbarem Boden
standen, ganz anders in fettem Land; ja, sie blühen
zu wundervollen Exemplaren ihrer Gattung auf. Aber
sie büßen ihr moralisches Ideal ein, das auf der
richtigen Erfüllung bestimmter Obliegenheiten beruht.
Sie sind von der Gottheit ausersehn einsame Orte
zu schmücken, auf denen andere Pflanzen nicht ge-
deihen. Sie sind dazu mit Kraft und Mut ausgerüstet
und den Fähigkeiten der Ausdauer. Ihre Charakter-
anlage, ihr Ruhm besteht nicht in schwelgerischem
und faulem Prassen, auf Kosten anderer, ihretwegen