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die niemand sorgt und die sich allein durcharbeiten
müssen. Sind nun allein die schönen Exemplare
ideale Eichen, oder sind die armen, gemeinen Eichen
auch ideal zu erachten; d. h. erfüllen sie die Be-
dingungen, die der allgemeinen Vorstellung von der
Eiche zukommen?
[Ruskin geht hier, aus dem Begriff des Idealen in den
des Charakteristischen über, und stellt damit das neue
Kunstideal auf, das seine Berechtigung aus der Natur
der Dinge schöpft. Dabei erschließt er die Seele
der seelenlos erachteten Kreatur.]
Die Tiere können umhergehen und sich ihre Nahrung
suchen. Die Pflanzen sind festgebannt an ihren Ort.
Darum erscheinen uns die Tiere für ihre Gesundheit
und Vollkommenheit verantwortlich zu sein. Anders
die Pflanzen. Sie stehen an Orten, die für sie
verhältnismäßig ungeeignet sind. Sie sollen alle
Lücken ausfüllen, sie sollen für den Bedarf an Grün,
Kühle, Schmuck und Kohlensäure sorgen, und zwar
ohne dass auf ihre Bequemlichkeit und Behagen
Rücksicht genommen wäre . . . . So gibt es auch
unter den Bäumen keine Musterexemplare, die als ihr
Ideal hingestellt werden könnten. Wohl aber ist das
eine ideale Eiche, die, sie mag noch so armselig,
verkümmert oder sturmzerrissen sein, unter den ge-
gebenen Umständen alles geworden ist, was sich von
einer Eiche erwarten lässt. Das Ideal einer Park-
eiche verlangt, dass der Baum zu seiner vollen Größe
ausgewachsen sei, und sich zu abgerundeten, gleich-