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Kunstwerke mag man einteilen in solche, die an-
geblich der Fantasie entstammen ohne ihr Gepräge
zu tragen, und die darum falsch sind, und in sol-
che, die angeblich Tatsachen darstellen, diese Dar-
stellung aber verfehlen und darum wirkungslos blei-
ben. Die meisten Beobachter, die die Kunst als
Darstellerin von Tatsachen betrachten, fragen nur
danach, ob die Darstellung ähnlich sei. Und doch ist
der größere Teil aller Kunstwerke, namentlich die der
Schönheit geweihten, aus der Fantasie geboren. Das
Wort ideal hat aber noch eine andere Bedeutung. So
lange wir es auf eine Kunst anwenden, die nicht Tat-
sachen, sondern Ideen darstellt, sind wir ebenso be-
rechtigt, es auf eine Kunst anzuwenden, die eine Idee
von Kaliban darstellt und nicht den wirklichen Kali-
ban, als auf eine Kunst, die eine Idee von Antinous
darstellt und nicht den wirklichen Antinous. Denn
es gehört ebensoviel Fantasie dazu, sich das Unge-
heuer vorzustellen als den Menschen. Sind jedoch
Kaliban und Antinous Geschöpfe derselben Spezies,
und fehlen der einen Gestalt nur die voll entwickel-
ten Charakteristiken ihrer Art, dann wird die aus-
gebildetere Gestalt idealer genannt als die andere,
weil sie eine völlige Annäherung an die allgemeine
"Idee" oder Vorstellung der Spezies darstellt.
Diese Anwendung des Wortes ideal ist nun weniger
genau als die vorige, von der sie abgeleitet ist, da
sie voraussetzt, alle Charakteristiken einer Spezies
könnten in ihrer vollkommenen Entwicklung nur in