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Man vergleiche die dürftigen Linien und verächtlichen
Qualen Laokoons mit der Größe und Ruhe von Michel-
angelos Gemälde der ,Feurigen Schlangen". Es ist
heilsam zu sehen, wie sein riesenhafter Geist nach
Ruhe verlangt und sie in der sinkenden Hand der
vorderen Gestalt findet, und in dem tödlichen Verfall
des Mannes, dessen kalte Hände, obwohl vergiftet,
sich noch zu der ehernen Schlange erheben. Und
die Größe dieser Behandlung beruht nicht nur auf
Wahl, sondern auf genauerem Wissen und getreuerer
Wiedergabe der Wahrheit. Denn was für Kenntnis
der menschlichen Formen auch im ,Laokoon' enthalten
sein mag, sicherlich ist nichts wahres darin über
Schlangen. Das sich Festbeißen des Schlangen-
haupts in die Seite der Hauptfigur ist so falsch der
Natur gegenüber, wie armselig in der Linienkomposi-
tion. Eine große Schlange beißt nie, sie umklam-
mert; sie packt deshalb immer das, was sie am besten
halten kann", die Extremitäten oder den Hals. Sie
ergreift ihr Opfer mit so unsichtbarer Geschwindig-
keit, wie eine Peitsche sich um einen harten Gegen-
stand ringelt, den ihr Hieb gerade streift. Und dann
hält sie fest und regt weder Kiefer noch Körper. I-Iat
das Opfer noch Kraft zur Wehr, dann umschlingt sie
es noch einmal, ohne ihre Beute mit den Kiefern los-
zulassen. Wenn Laokoon mit wirklichen Schlangen
gerungen hätte, statt mit Einzelteilen von Band-
würmern, so würde er so fest umklammert worden
sein, dass er weder Arm noch Bein hätte regen kön-