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l. Das Schöne ist nicht das Wahre. Ein Stein sieht
so wahrhaftig wie ein Stein aus, wie eine Rose aus-
sieht wie eine Rose, und ist doch nicht so schön.
Eine Wolke mag mehr einem Kastell gleichen als
einer Wolke, und dadurch nur um so schöner er-
scheinen. Die Spiegelung der Wüste ist schöner als
ihr Sand, das Bild des Himmels im Meere schöner
als das Meer selbst . . . .
2. Das Schöne als nützlich anzusehen, heißt Bewun-
derung mit Hunger verwechseln, Liebe mit Lust und
Leben mit Sensationen. Es heißt behaupten, die
menschliche Natur habe keine Ideen und Gefühle
außer denen, die sich auf ihre
beziehen. Zu Gunsten dieser
brutalen
Ansicht
Begierden
ist nichts
vorzubringen, so lange die Menschheit sich nicht
dahin geeinigt haben wird, Samen und Wurzeln für
die schönsten Erzeugnisse der Natur, und Spaten
und Mühlsteine für die schönsten Kunstwerke zu
halten.
3. Weil man sich an hässliche Dinge gewöhnen kann,
hat man Gewohnheit als Ursache der Schönheits-
empfindung angesehn. Ebensowohl könnte man dar-
aus, dass der Gaumen Geschmack an Oliven gewin-
nen kann, folgern, Gewohnheit sei Ursache des köst-
liehen Wohlgeschmacks der Trauben. Die Gewohn-
heit hat aber eine andere, zweifache Aufgabe. Ein-
mal die Stärke wiederholter Eindrücke abzuschwächen,
dann aber, das vertraute Objekt der Zuneigung lieb
zu machen. Das letztere ist ihre Aufgabe gegenüber