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Bewusstsein äußerer Anziehungskraft beschränken
könnten, bliebe noch Raum für viele Irrtümer.
. . . . Um das Wesen des Schönen zu erfassen, be-
darf es nur, dass wir mit ernsthafter, liebevoller und
selbstloser Aufmerksamkeit auf unsere Eindrücke
achten; so lernen wir das, was bestimmten seichten,
falschen Zeiten und Temperamenten angehört, von
dem unterscheiden, was ewigen Wert hat. Und die-
ses Verweilen und liebevolle Betrachten (das die
Deutschen "Anschauung" nennen) ist vielleicht
dasselbe, was die Griechen als "Theoria" bezeichne-
ten. In der Tat eine hohe Aufgabe der Menschenseele,
wodurch sie sich besonders von der Seele niederer
Kreaturen unterscheidet, denen nicht nachzuweisen ist,
dass sie irgendwelche Fähigkeit zur Betrachtung über-
haupt besitzen, sondern nur eine rastlose Lebendig-
keit der Wahrnehmung.
Für echte Geschmacksbildung ist ein geduldiges Tem-
perament von nöten, das bei allem, was ihm vorkommt,
verweilt, nichts zertritt, selbst wenn es Trebern
gleicht, denn es könnten ja Perlen sein. Ein Tem-
perament wie gutes Land; weich, eindrucks- und auf-
nahmefähig. Es trägt nicht Dornen unfreundlicher
Gedanken, die zarten Samen ersticken müssten; es
ist hungrig und durstig, trinkt allen Tau, der herab-
fällt. Wie „ein feines gutes Herz", das sich nicht
zu schnell erschließt, ehe die Sonne aufgegangen,
aber dann auch nichts schuldig bleibt. Es misstraut
sich, und ist bereit, alle Dinge zu prüfen und zu