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MODERNE
KUNST
UND
MODERNE
KRITIK
. . . . Wir wissen alle, dass die Nachtigall schöner
als die Lerche singt; wer möchte aber deswegen
wünschen, dass die Lerche nicht sänge oder die Be-
deutung ihrer Stimme in den Melodien der Schöpf-
ung für unwesentlich erklären? Welcher Unterschied
auch bestehe zwischen den geistigen Fähigkeiten der
Künstler: wo sich wahres Genie offenbart, wird auch
der
Bescheidenste
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etwas
lehren
können .
Der
öffentliche Geschmack ist, soweit er die Kunst er-
mutigt und erhalten hat, zu allen Zeiten derselbe
gewesen: eine zufällige, schwankende Strömung unbe-
stimmter Eindrücke, immer zu Wechsel geneigt,
epidemisch auftretenden Wünschen unterworfen und
erregt durch ansteckende Leidenschaftlichkeit; Sklave
der Mode und Narr der Einbildungen; aber doch mit
eigentümlicher Hellsicht unterscheidend zwischen
dem besten und schlechtesten in der besonderen
Nahrung, die seinen krankhaften Appetit reizt. Er
hat niemals geirrt und immer das erkannt, was das
Genie erzeugt hat, auch wenn seine Leistungen durch
irrtümliche Ziele erniedrigt wurden. Der öffentliche
Geschmack
kann
Künstler,
die
der
höchsten
Kunst
fähig wären, zu Porträtmalern ephemerer Mode herab-
würdigen; er wird aber immer wissen, wer unter
ihnen am meisten Geist besitzt. Er wird den, der ein
Buonarotti
hätte
werden
können,
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dem
der
ein
Bandinelli geworden wäre zu unterscheiden wissen, ob-
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