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neben die Kirche, wie es geht, ohne die Turmspitze
aus dem Auge zu verlieren. Betrachte die Säulen-
kapitäle des zweiten Stockwerks. Sie sind reich an
auserlesenen Skulpturen. Beschreibe ihre Muster.
Du kannst es nicht. Beschreibe mir, welche Rich-
tung eine einzelne Linie nimmt. Du gewahrst eine
Menge Linien, und du empfindest, dass sie nach
einer bestimmt geordneten Tendenz verlaufen, und
bist überzeugt, dass alle Kapitäle wundervoll und jedes
von dem andern verschieden ist. Aber nun verfolge
den Verlauf einer einzelnen Linie in einem einzigen
Kapitäl. Dann betrachte Canalettos Gemälde dieser
Kirche im Palazzo Manfrini, von derselben Stelle aus
gemalt, auf der du stehst. Wie viel von dem allen
hat er dargestellt? Unter jedem Kapitäl einen schwar-
zen Punkt als Schatten, und darüber einen gelben als
Licht. Keine Spur, kein Hinweis, dass es sich um
Skulptur oder Dekoration irgend welcher Art handelt.
Davon verschieden, aber nach der anderen Seite
hin irrtümlich ist die gewöhnliche Zeichnung des
Architekten, der die Hauptlinien fein, deutlich und
präzis wiedergibt, sie aber nicht in zarten Über-
gängen verschwimmen lässt. Ohne dies alles um-
webende Geheimnis werden aber alle Raum- und
Größenverhältnisse aufgehoben, und wir haben nichts
als die Wiedergabe eines Modells, aber keines Ge-
bäudes.
Kommt aber dies Mysterium schon in unerschöpf-
licher Vollendung in den feineren Beispielen dekora-