412
Rom.
die Vorliebe der Römer für das korinthische Capitäl keineswegs allzu
tadelnswerth linden, muss es aber als eine um so gröbere Verirrung der
späteren Zeit bezeichnet werden, wenn die grossen Vorzüge desselben
dadurch wieder paralysirt werden, dass lediglich in dem Bestreben der
Häufung des Ornamentes ein ionisches Capital mit vier Spiralenseiten
auf die beiden unteren Blattkränze korinthischer Bildung gepfropft
wurde und dadurch jenes Compositcapitäl (Fig. 223) geschaffen
ward, welches auch in der Renaissance eine so breite Anwendung
gefunden hat.
Dadurch dass der Blätter- und Rankenschmuck des Capitäls all-
mälig über das Gebälk hinaufwucherte, gewann auch dieses einen be-
sonderen Charakter und erlaubte dem Römer, der sich ja der gesamm-
ten hellenischen Architektur nur als umhüllender Decoration bediente,
das Korinthische als Ordnung dem Toskanischen (Dorischen) und dem
ionischen zu coordiniren. Wie er aber die korinthische Base durch eine
Combination der ionischen mit der attischen gewonnen, so entstand
auch die charakteristische Neuerung im Gebälk durch eine solche schon
von Vitruv erkannte, aber bisher nicht richtig gewürdigte Verqtiickung.
Der Zahnschnitt schien in seiner Einfachheit und geringen Ausladung
nicht zu genügen; man setzte daher die dorischen Mutuli römischer
Behandlung, welchen horizontale Lage und das Fehlen der Tropfen
charakteristisch ist, entweder an ihre Stelle oder über sie, legte ihnen
aber jenen spiralischen Kragstein unter, der wohl am frühesten als
Sturzträger der ionischen Thürgewandung in verticaler Lage angebracht
worden war, in unentwickelter Weise aber auch an einem Innengesims
des Thurms der Winde horizontal angewandt erscheint. Reicher Blät-
terschmuck gab diesem einen vegetabilischen und somit dem Capitäl
höchst harmonischen Charakter; die ganze Gesimsbildung aber erlangte
hiedurch eine völlig selbständige Bedeutung und reich-anmuthige Schön-
heit. Diese ward freilich bald wieder getrübt durch die Unfähigkeit
Maass zu halten, welche die römische Kunst der hellenischen gegenüber
so sehr benachtheiligt; denn die zunehmende Häufung der Zierglieder
erstickte das Verständniss der Hauptformen und bot dafür um so gerin-
geren Ersatz, als die Details mit ihrer Vermehrung an formeller Vollen-
dung verloren.
Wir haben den Tempelbau der Römer nur desswegen in solcher
Breite behandelt, weil er für die Erörterung der römischen Säulenord-
nungen die passendste Basis darbietet. Die Bedeutung der römischen
Architektur aber liegt nicht im Tempelbau, sondern in den gemeinnützi-
gen Profanbauten. Wie bei diesen der Zweck das in erster Linie