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Hellas.
So bedeutend die Schule der beiden Meister des Pathos gewesen
sein muss, so scheinen doch unter zahlreichen erhaltenen Namen ausser
den obengenannten Genossen des Skopas am Mausoleum und den beiden
Söhnen des Praxiteles, Kephisodotos dem jüngeren und Timarchos
wenige hervorragende aufgezählt werden zu können. Zwei statuarische
Werke höchster Bedeutung aber dürften ihren tüchtigsten Schülern zu-
zuschreiben sein, die Venus von Melos im Louvre und der sog. llioneus
der Glyptothek in München. Wäre die riithselhafte Künstlerinschrift
der ersteren, welche sie in Charakteren des 1. Jahrhunderts v. Chr. als
Schöpfung des (Ale)xandros, Menides" Sohn aus Antiocheia am Mäander
bezeichnet, die jetzt sammt dem entsprechenden Theile des Plinthes
verschwunden ist, zugehörig oder acht, so würden wir an dem Werke
einen unerklärbaren Anachronismus, eine Leistung höchster Kunst-
stufe in entschieden vorgeschrittener Verfallzeit besitzen; da aber die
Aechtheit durch Verlust des Stückes nicht einmal mehr geprüft werden
kann, so wird die Wissenschaft sicherer gehen, sich mehr an den Styl
zu halten. Nach diesem aber, der alle übrigen, nach den Künstlerin-
schriften allein beurtheilt, älter erscheinenden Venusdarstellungen durch
die Grossartigkeit und Göttlichkeit im Gegensatz zu der verschämten
Koketterie der letzteren, durch die kraftvolle Fülle des Fleisches an die-
sem in ewiger Jugend blühenden Körper im Gegensatz zu deren über-
triebener Grazilität, durch die milde Weichheit der OberHäche neben
der ltalten Glätte an den anderen Aphroditen bei weitem übertrifft,
müssen wir zwischen sie eine Kluft setzen, welche ungefähr derjenigen
zwischen der praxitelischen Blüthezeit und der römischen Reproductions-
periode entspricht. Wenn aber diess zur Ueberzeugung werden kann,
so wird dasselbe kaum mit einer der vorliegenden Erklärungen der
Statue der Fall sein können. Denn da beide Arme fehlen, und der
halbnackte Körper mit dem herabgesunkenen und die Beine verhüllen-
den Gewande auch das einzige sonstige Kennzeichen, nemlich den Ge-
genstand, auf welchen sich das etwas erhobene linke Bein stützt, ver-
loren hat, lässt sich kaum der Name der Figur als Aphrodite schlecht-
hin mit der üblichen Sicherheit annehmen, indem römische gleichfalls.
halbnackte Victoriatypen in derselben Gewandung und Stellung mit
Schilden, auf welche sie den Sieg schreiben, den Gedanken an eine der
attischen Athene-Nike analoge Aphrodite-Nike (Fig. 187) erwecken dürf-
ten, gcschweige denn die ganze Composition. Die Restaurationen haben
alle ihre Schwierigkeit: sowohl die gewöhnlicher angenommene der sich
im Schild des Ares spiegelnden Göttin trotz der auch auf die capuanische
in Neapel befindliche Venus anwendbaren Analogie einer von Pausanias